Schulisches

 Pennäler

 

 Wie ein Schüler denn sein müsste,

steht in dieser langen Liste:

 

Soll des Lesens und des Schreibens mächtig

urgesund sein, nicht zu schmächtig,

auch besinnlich und bedächtig,

marktbewusst und medienkundig

und im Ausseh´n äußerst pfundig,

doch noch möglichst gut in Mathe

und nicht eingepackt in Watte,

dennoch aber hochsensibel,

genau, verlässlich und penibel,

kommunikativ und offen,

nicht auf eine Rente hoffend,

sparsam, höflich, klug und fleißig,

endlich ausgelernt mit dreißig,

selbstbewusst und –ständig,

kreativ und noch lebendig,

angepasst und dennoch kritisch,

cool und sprachlich etwas britisch

und der Umwelt wohl bewusst,

ohne Frust und mit Lust.

 

Schlüsselqualifikationen

sollen sich ein bisschen lohnen.

Deshalb sei auf Lebenszeit

leistungswillig, lernbereit,

teambefähigt, freundlich, heiter

und so weiter und so weiter.

 

Doch am besten ist,

 wenn Du alles dies vergisst.

Sei nicht wetterwendisch,

sei am besten schlicht authentisch,

und wenn die da draußen schrei´n

horch in Dich hinein.

 

Irgendwann, das ist gewiss,

wirst Du der sein, der Du bist.

 

Ruhe, doch nicht Stand

 

 „Für treue Dienste“ ein Papier

und dann auch noch ein Blumenstrauß!

Dein Arbeitgeber dankt dafür.

Es schließt sich hinter Dir die Tür,

und Du bist raus.

 

Vorher hat man noch erläutert,

was Du selbst am besten weißt,

wie lange Dich Dein Amt erfreut hat.

Kaum jemand fragt, ob`s Dich gereut hat,

und was beim Lehren Freude heißt.

 

Die vielen Namen und Gesichter!

Was hältst Du davon wirklich fest?

Die Schatten und die vielen Lichter,

Konturen dunstig oder dichter,

der „Eindruck“, den Du hinterlässt!

 

Ein Stückchen Erde umgestaltet

und hier und dort ‘ne Spur gemacht,

mit Lust und Kraft ein Amt verwaltet,

Dich manchmal spürbar eingeschaltet,

Dich selber um den Schlaf gebracht.

  

Und manchen Menschen auch begeistert

und sehr erfreut

und eine Aufgabe gemeistert,

und - hoffentlich - gar nichts bereut.

 

War’s nun das wilde, bunte Leben?

Voll Schmerz und Freude, Angst und Glück?

Und nicht nur „Dienst“ und „Jahre“  eben,

Erfüllung für den Augenblick?

 

Unsres Lehramts hohe Würde –

für manche bleibt sie echt und jung.

So manchem wird sie eine Bürde,

man trägt sie tapfer zu der Hürde

der Pensionsberechtigung.

 

Man sagt es leichten Sinns dahin,

dass Du uns unvergessen bleibst.

Warst für uns alle ein Gewinn!

Verzeih uns, geht uns aus dem Sinn,

 zu schnell, was Du so treibst.

 

Man kann Dich heut  von dem entbinden,

was Dich an unsre Schule band,

 man kann den Rotstift Dir entwinden,

doch wirst Du neue Pflichten finden.

Ich wünsch Dir „Ruhe“, doch nicht „Stand“.

 

Dicke Freunde

 

Ein Junge aus der siebten Klasse

wird heulend ins Büro gebracht,

wo ich empörte Körpermasse

sich setzen und erzählen lasse,

was man mit ihm gemacht.

 

„Paul ist auf meinen kranken Rücken

von hinten draufgesprungen.

Ich  kann mich doch  noch  gar  nicht bücken

und ging vor kurzem noch an  Krücken.“

Sein ganzes Elend, oft besungen.

 

„Ich habe ihm so oft gesagt:

´Lass sein! Hau endlich ab, Mann!´“ –

Ich höre, wie er sich beklagt,

und schließlich hab´ ich ihn gefragt,

ob er den Paul noch ab kann.

 

„Na, ja“, sagt er und meint es so,

„Paul hat es ja nicht bös gemeint!“

Ich bin, noch zweifelnd, doch sehr froh

und ruf´ den Paul in mein Büro,

der bleich ist und fast weint.

 

Mit seinen langen dünnen Armen

umschlingt er seinen dicken Freund.

Den  lieben  Gott wird es  erbarmen,

wie sie sich liebevoll umarmen.

Und später habe ich  geweint.

 

Pisa und was nun ? 

 

Uns're Schule taugt zu nichts,

niemand geht mehr gern  dorthin,

denn dem Unterricht gebricht's

an  des Lernens Lebenssinn.

 

"In der  Schule will ich  lernen,

nicht, weil ich dort  lernen  soll!"

Würd' man  doch  den  Zwang entfernen!

Davon ist  sie übervoll.

 

Lernst du, weil du lernen  willst,

weil du gute Gründe hast,

deinen  Durst  auf Wissen stillst,

lernst  du so, wie's zu dir passt.

 

Wird das  dir gemäße Wissen

deinem Durste anempfohlen,

wirst du's schließlich  selbst  vermissen,,

es entdecken  und dir holen.

 

Würde man  so  reformieren,

würde Schule wieder  schön.

Dort könnte man sich  ausprobieren,

ernsthaft spielen  und studieren,

wieder  gern  zur Schule gehn.

 

Kopieren statt studieren

 

Wenn dir selber  nichts mehr einfällt,

was du denkst wird Simili,

auch  dein Wortschatz dir ein Bein stellt,

greifst du einfach zur Kopie..

 

Zehn- und hunderttausendfach

kannst  du die Gedanken  doubeln,

die ein Mensch  sich  mal gemacht,

und den  Leuten  unterjubeln.

 

Abgeschrieben, unauthentisch,

abgedroschen, sinnentleert

werden schamlos und verschwend'risch

Worte auf Papier vermehrt.

 

Ohne deine Unikate,

wirst du selbst eventuell

mit dem  Kopf voll Plagiate

schließlich virtuell.

 

Bist zu wissen  du erpicht,.

wer denn wirklich in dir wohnt,

"Bist  du's oder  bist  du's nicht?"

oder "Bist  du schon geklont?" -

 

geh davon zu einem  Ort,

wo dich  kein Papier erreicht, 

denk dir auch  die Wörter fort,

mach  dich  leicht.

 

Lass dich tragen von Gefühlen,

schau  die inneren Gesichter,

zieh  aus den  Gedankenmühlen

deine Lichter.

 

Neid oder  Mitleid

 

Du  wagst  dich  raus auf eine Bühne

und kriegst  Applaus, doch  mit Ranküne,

 

Der  Leute Neid ist  schwer erschuftet,

wenn du  ein Mensch der Tat bist.

Wenn dein Verdienst  nur heiße Luft  ist,

dann kriegst du Mitleid gratis.

Pauker...

 

Wie ein Lehrer heute sein soll...

ist fürwahr ein ganzer Sack voll:

 

Doch vor allem jung und knackig,

nicht zu zackig und voll cool.

UND GERECHT WÄR´  NICHT SCHLECHT!

 

Und er soll nicht  so blöd streng sein,

im Unterricht nicht öd und peng sein,

sondern spannend und voll fun,

wäre schön, wenn er das kann.

 

Und dann soll er voller Pep sein

und auf gar kein‘ Fall ein Depp sein.

Er soll Rock und Techno lieben,

nicht im Sport zurückgeblieben,

fit  sein mit ‘nem Ring im Ohr,

kommt schon vor.

 

Und natürlich  darf er  schwul sein,

jedoch  muss er dann voll cool sein

irgendwie wie ich  und du sein.

Aufrecht sei er, doch nicht grade

und dabei nicht allzu fade,

auf dem Kopf noch ein paar Haare,

kinderfreundlich und korrekt,

aufgeweckt.

Querdenkend und mit Kanten,

bodenständig und doch schwankend

zwischen Pflicht- und Wahlverwandten,

positiv, gewaltvermeidend,

Elend, Unrecht sehr beweinend,

demokratisch, solidarisch,

autonom, und auch schon

frauen- und ausländerfreundlich,

und auch das besonders deutlich,

jedenfalls sehr effizient,

nicht verpennt,

weiß, wie man sich CDs brennt.

 

E-mails kann er schreiben, lesen,

war im Internet gewesen,

technologisch auf der Höhe,

hütend einen Sack voll Flöhe.

Und vor allem jung und knackig

nicht zu zackig und voll cool.

Und sein Unterricht  sei praktisch,

sucht- und drogenprophylaktisch,

durchaus wissenschaftsbezogen,

nicht verlogen, nicht verbogen.

 

Und erzieht zu Werten, Normen

und auch guten Umgangsformen,

individualisierend

und Gemeinsinn generierend,

sei sozialintegrativ

und nicht schief,

kognitiv,

voller Mief.

 

Die wichtigsten Lernziele

sind die Positiv-Gefühle,

ist vor allem das Soziale

und das finanziell Reale,

denn Verzicht auf den Profit

wär´  großer Schitt.

 

Sei das eine und auch alles,

sei im Falle eines Falles

überall in jedem Trend,

wo, wenn’s brennt,

jeder hinrennt

 

Doch am besten ist,

wenn Du diesen ganzen Mist

schnell vergisst.

 

Sei ein Mensch und sehr sensibel,

mach’s nach Deinem eignen Stiebel,

sei, wie Du bist!

  

Wenn sie wüssten...

 

Wenn die Schüler  alle wüssten,

dass sie eigentlich  nicht müssten,

würde das Zur-Schule-Gehn

richtig schön.

 

Spreu würde sich  vom Weizen  trennen,

in die alte Penne rennen

würden  dann nur Motivierte -

Jeder  Vierte?

 

Entsprechend wäre dann entbehrlich,

würd' mit Recht, sein wir doch  ehrlich,

auch  das  Gros der  Pädagogen

neu gewogen.

 

Zügellos

 

Elektro-Lok auf dem Geleise –

Sie fährt alleine ohne Zug

auf irgendwie beschwingte Weise,

als wäre sie sich selbst genug.

 

Als hätte sie sich  losgerissen

und ihrem  Dienstherrn grad verkündet,

so’n Zug zu zieh’n sei echt be...scheiden,

ob er nicht eine andre findet.

 

Sie weiß nicht, wie die Reise endet,

sie fährt drauflos und gibt sich preis

dem, der dann eine Weiche wendet

und lenkt sie. – Auf ein Abstellgleis?

 

Nein, auf ein Nebenstreckchen,

vorbei an  Wiesen, Wäldern, Seen.

An einem traumhaft  schönen Fleckchen

lässt sie ihr Stahlgehäuse steh’n.

 

Statt munter hin und her zu flitzen,

hat sie nun Zeit zu meditieren,

bleibt zwar auf ihren Gleisen sitzen,

kann trotzdem sich emanzipieren.

 

 Ihr seid Klasse, Kameraden

 

Gefährten sind wir schon seit Jahren,

nebeneinander her gefahren,

miteinander nicht.

Sah´n die mühsamen Fassaden

unsrer Klassenkameraden

und einander ins Gesicht,

konnten es jedoch nicht wagen,

irgendwem zu offenbaren,

„da ist Schatten hinter meinem Licht.“

 

Dass wir alle Wunden tragen,

andren  selber Wunden schlagen,

wissen wir oft nicht.

Doch, was ängstlich wir verbargen,

kommt an ganz besondren Tagen

und zu unsrem Glück ans Licht,

und zwar durch das Fragen Wagen

und die schlichte Wahrheit Sagen,

mitten ins Gesicht.

  

Nein, nicht jedem kann ich trauen,

nicht auf jeden kann ich bauen,

bin auf der Hut.

Mein Vertrauen, arg zerschlissen,

möcht´  ich nicht bedauern müssen,

werde mir zu helfen wissen –

anders als durch Wut.

Lasse mir den Mut nicht klauen:

Menschen tapfer zu vertrauen,

tut so gut.

Burned out

 

Du bist noch, wie man sagt „ansehnlich“,

doch geht es dir wie mir ganz ähnlich:

Wir reißen beide in der Schule

 nichts mehr und niemanden vom Stuhle

und warten längst beim Garten Pflegen

auf den Regen.

 

Wir sind zwar noch ein bisschen quer,

doch das, was wir einmal gewesen,

sind wir nicht mehr

und werden kaum von dem genesen,

was uns uns selbst entfremdet

und Witz, Talent und Kraft entwendet.

 

Da war mal so was wie ein Feuer,

das brannte lichterloh,

es war uns selber nicht geheuer

und war doch nicht nur Stroh.

 

Wir hatten Kraft und wollten ändern,

die Welt der Jungen neugestalten,

von Grund auf, nicht nur an den Rändern,

und dies Versprechen würde halten.

 

Dies alles kehrt nicht mehr zurück!

Wann wagen wir den zweiten Blick

auf das, was uns vom Leben bleibt

und was uns heut noch treibt?

 

Das Fehler Suchen kannst nicht sein

Und nicht das Fehlen zu verbuchen.

Dies alles ist für uns klein-klein

Statt Roggenbrot nur alter Kuchen,

 

der uns nicht satt macht,

sondern voll,

so dass man aufstößt in der Nacht.

Du fragst, was dies Gedicht nun soll.

Ich denke nur so drüber nach

Und lüg mir tapfer in die Tasche:

 Da ist noch Glut unter all der Asche.

...und Computer

 

 Lehrer wissen, obwohl tüchtig,

mancherlei nicht so ganz richtig.

Und weil jemand sie verpetzt hat,

findet  Schule nun vernetzt statt,

könnt ihr in der ganzen Welt

plauschen, lauschen wie’s gefällt,

mit der Welt kommunizieren

konkurrieren,

werdet weltenweit verbunden,

 Lebensvielfalt zu erkunden. –

Und des nachts geht ihr ins Bett

mit Internet.

 

Alles, was ihr wissen wolltet,

auch was ihr nicht wissen solltet,

kriegt ihr endlich unzensiert,

weil’s euch nun mal int’ressiert.

Statt auf Lehrer sich verlassen,

die ihr Wissen schnell verprassen,

holt sich jeder nun das Seine

ganz alleine,

wendet ihr euch an Yahoo

oder dem T-Online zu,

logged euch ein ins World Wide Web

im Internet.

  

Statt auf Mopeds rumzusausen,

müsst ihr nunmehr fleißig browsen,

 findet ganz allein die Sachen,

die euch viel mehr Freude machen

als die doofe Lernerei,

die ist oft von Freude frei.

Und das Buch und  Zeitung Lesen

war  gewesen.

Bunte Bilder klickt ihr an,

Videos mit viel mehr fun.

Mit koketten Usern chatten

 könnt ihr dann beim Internetten.

 

Doch  tatsächlich fehlt's an Liebe

in dem Internet-Getriebe.

Wo die Hardware Härte zeigt,

sehnst du dich nach Zärtlichkeit,

 nach Mitfreuen und Betrauern,

nach Bereuen und Bedauern.

 Jeder stellt

in das Netz, was ihm gefällt,

Kluges, Schlichtes und Gescheites

und vor allem furchtbar Breites:

Meistens ist das meiste Schitt

im Internit

  

Von zu Hause abgenabelt

und nun  mit der Welt verkabelt,

klickt ihr euch mit eurer Maus

aus dem wahren Leben aus.

Wo ist da was, das ihr streichelt,

das euch softwaremäßig schmeichelt,

wo in virtuellen Räumen

bleibt euch Raum und Zeit zu träumen

und zu zweifeln an den Fakten,

den so wunderschön verpackten?

 

Denken musst Du schon alleine!

Tust Du dabei nicht das Deine,

bohrst Du ein sehr dünnes Brett

im Internet.

 

 Frühstückszeit

 

Er war durchaus kein Bösewicht,

der kleine Paul, elf Jahre alt.

Er wollte in die Schule nicht,

verließ das Haus, ging in den Wald.

 

Er fühlte sich so froh und frei,

nichts saß ihm da im Nacken.

Sein Frühstücksbrot und Hühnerei

begann er auszupacken.

 

Die Krähe auf dem Kiefernast

vor ihm begann zu fragen:

„Ob du wohl Lust und Laune hast

mich durch den Wald zu tragen?“

 

Er steckte gleich sein Frühstück ein

und nahm den Vogel in die Hände.

Trug ihn in jenen Wald hinein

bis an das andre Ende.

 

Dort sah er eine Amsel sitzen,

vor einem Apfel, und sie bat:

„Kannst du für mich den Apfel ritzen?

Die Schale ist mir viel zu hart.“

 

Kaum war der Apfel weich geschält,

sprach ihn ein Sperling an.

„Ein Zweiglein, das zum Nestbau fehlt –

ach bitte, schaff es ran!“

 

Paul brachte ihm den Zweig,

um dann so schnell er konnte umzukehren,

zur Schule, denn man kann

doch dort in Ruhe irgendwann

sein Pausenbrot verzehren.   

 

Elternsprechtag

 

Eltern sind uns sehr willkommen,

wenn sie in die Schule kommen

und uns fragen,

gibt es Klagen,

was hat ab-,

was hat zu-,

was hat ab- und zugenommen.

 

„Er ist faul,

quatscht mit Paul,

kann kein bisschen zuhör´n,

muss die andern ständig stör´n,

lernt auch die Vokabeln nicht,

sagt  mit grinsendem Gesicht,

dass er seine Hausaufgabe

wieder mal nicht habe.

 

In der  sechsten  Stunde

ist  er  selten  oder  nie da,

dann mal wech und lieber  Kunde

in der  Bahnhofspizzeria.

Hab ihn deshalb angemacht:

Unverschämt und pflichtvergessen!

Er hat  mich nur angelacht,

sei halt hungrig, müsse essen.

  

Kürzlich ist er abgehauen

nach der zweiten Mathe-Stunde,

sagte: ‚Klar werd‘ ich  mich  trau´n!‘

Nimmt sein Moped, fährt ´ne Runde.

Dann  bestellt er sich ´ne Pizza,

die der Pizza-Bote bringt,

 und das mitten in  der  Reli-Stunde,

als die Klasse grade singt.

 

Letzte Arbeit war ganz schlecht.

Glatte sechs. ‚Das ist gemein!’,

schrie er und hat sich gerächt.

Fügte einem Kameraden

mittelschweren  Körperschaden

zu, weil der so höhnisch lachte,

hieb mit Fäusten  in ihn rein,

dass es nur so  krachte.

 

Nie hat er die Bücher da,

und weiß nie, was dran  war,

scheint die  Pausen zu  gebrauchen,

um mal wieder Hasch zu rauchen,

ist in Mathe ganz schlecht drauf,

gibt in dem Fach völlig auf,

muss wohl runter von Real,

ist ihm ohnehin egal.

  

Er ist wahrlich keine Freude

und so gar nicht motiviert,

dabei weiß er doch, was heute

in der Wirtschaft so passiert. –

 

Nett dass Sie ´mal hier gewesen,

denn nun wissen Sie Bescheid.

Jungs sind unbekannte Wesen,

und die Eltern tun mir leid.“

 

Ach, war das mal eine Freude!

Ach, wie gut doch so was tut!

So verständnisvolle Leute!

Solche Eltern find ich gut.

 

Klassentreffen nach ? Jahren

Uwe, er  war  Klassensprecher und ist  jetzt Rentner mit Hobby.


Ralfs Liste

 

Ralf war ein Schüler meiner ersten Realschul-Abschlussklasse. Mit ihr unternahm ich 1971 eine für damalige Zeit anspruchsvolle Abschlussreise nach London, 25 Jugendliche, heiß auf London, damals das Zentrum der neuen Popkultur, Mekka der Jugendlichen aus ganz Europe: Eine magische Anziehungskraft besaßen die Wörter Beatles, Carnaby Street, Piccadilly Circus, Speakers‘ Corner, Hydepark.

 

Es war ein großartiges Erlebnis, jeder Tag eine neue Überraschung. Und wir hatten unglaubliches Glück: sahen Prince Philip hautnah, wie er im prächtigen Ordensmantel die Stufen zum Eingang der St Paul’s Cathedral hinauf eilte. Durch ein Spalier ebenso prächtig uniformierter Trompeter, die seine Ankunft mit schmetternden Trompetentönen angekündigt und begleitet hatten. Wir sahen den Premierminister Edward Heath vor seinem Amtssitz Downingstreet Number 10. Er winkte uns und den anderen Touristen zu, bevor er in seinen Dienst- Rolls Royce einstieg. Wir erlebten eine große Militärparade in roten Galauniformen , Trompeten, Pauken, Kommandos.

Und nun kommt das größte: Wir sahen und hörten live, in einem BBC Studio am Piccalilly Circus, Dana, die irische Sängerin. Sie hatte im selben Jahr den European Songcontest mit ihrem Lied „Daffodils“ gewonnen. Der BBC –Moderator dieser Rundfunksendung hörte von uns, reichte unserer Klassensprecherin das Mikrofon, und sie stellte uns englandweit hörbar als eine Schülergruppe aus Gifhorn in Germany vor, auf Englisch natürlich. Zum ersten Mal in der Geschichte erfuhr ganz England dass es eine Stadt namens Gifhorn in Deutschland gab und sich dort auch eine Schule befand.

Und dann die endlosen Rolltreppen der Londoner U-Bahn, die uns zu all den Sights brachte. Towerbridge, Westminster Abbey, Houses of Parliament, Soho, Carnaby Street, Buckingham Palace, wo die Fahne auf dem Dach verkündete, dass die Queen zuhause war.

 

Ich hatte im Englischunterricht die Reise gründlich vorbereitet, das U-Bahnsystem erklärt, und die Regeln:

Wir würden uns in Gruppen von drei oder vier aufteilen, ich würde jeweils morgens die Tagestreffpunkte bekanntgeben und mich blind darauf verlassen, dass meine Schülerinnen und Schüler sich zum vereinbarten Zeitpunkt dort einfinden würden. Falls nicht, würde ich umgehend alle Detektive von Scotland Yard nach ihnen suchen lassen. Und tatsächlich, es klappte, nur einmal nicht, da hatten sich meine Frau und ich verspätet.

Ralf war ein stiller Junge, blieb still, während seine Klassenkameraden jeden Tag aufs Neue ausflippten vor Begeisterung und sich in den Trubel stürzten.

Von Tag zu Tag schien er mir bedrückter und sorgenvoller zu werden, bis ich ihn schließlich beim Frühstück am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes ansprach und fragte, „Ralf, was ist los, geht’s Dir nicht gut? Bist Du krank oder hast Du kein Geld mehr, dafür aber Liebeskummer? Nun sag schon.“

Er schüttelte bei jeder meiner Vermutungen heftig den Kopf. „Nein, das ist es nicht“. Und dann kam es heraus: „Ich habe erst vier Geschenke zusammen, vier von elf.“ „Und wozu brauchst Du die Geschenke?“ „Naja, es ist ja bald Weihnachten, und da will ich was aus London verschenken.“

Er zeigte mir eine Liste mit elf Namen, vier davon waren abgehakt. Aber für alle sollte, wollte er Geschenke mitbringen. Problem, sie sollten zu den Beschenkten passen, aber auch in seinen Rucksack und, natürlich, auch in sein Portemonaie, aber letzteres schien das geringste Problem zu sein.

 

Und dann erzählte ich Susanne, meiner Klassensprecherin, was Ralfs Problem war und sie erzählte es ihren Freundinnen und dann allen anderen und dann fuhren wir zum Petticoat Lane-Streetmarket, einem der berühmten Straßenmärkte Londons und die Mädchen schnappten sich Ralf um mit ihm zusammen seine Geschenkeliste abzuarbeiten. Sie hatten, wie ich, der ihnen mit Abstand folgte,beobachten konnte, viel Spaß dabei:

Meine Horde wildgewordener Teenager umschwärmten bald einen Stand, wo T-shirts aller Größen mit allerlei bunt draufgedruckten London-Symbolen, Bauwerke, Straßennamen, Pop-Idole wie die Beatles billig billig angeboten wurden: 1 Pfund, 90 das Stück, was etwa der Kaufkraft von 7 Euro entsprach. Susanne, verhandelte mit der Verkäuferin. Sie verwaltete die Klassenkasse und hatte die Vollmacht für alle ein Andenken zu kaufen. Sie feilschte erbittert und hartnäckig, bei Abnahme von 25 Stück war der Preis pro Stück schon auf 1.50 gerutscht, bei 35 Stück auf 1.20 und schließlich bei 40 Stück auf 1 Pfund, Handschlag drauf und nun ging der Trubel los. Natürlich wollte jeder sein T-shirt mit “seinen“ Symbolen in seiner Größe haben und Ralf hatte an seine Familie zu denken, die aus ganz Kleinen und ganz Großen und außerdem noch aus ganz Dünnen und ganz Dicken, ganz Jungen und ganz Alten bestand.

Als sie endlich abzogen, jeder mit seinem T-shirt im Rucksack, Ralf mit insgesamt 12 Susanne mit zusätzlichen drei, hinterließen wir ein Schlachtfeld und eine entnervte Verkäuferin, die von ihrem Chef, der schließlich auftrat, wüst beschimpft wurde. Sie müsse wahnsinnig gewesen sein, sich auf einen solchen Deal einzulassen.

Was die Standbetreiber dachten, als die Horde kichernder deutscher Teanager um ihre Stände wuselten, und erbarmungslos um die Preise feilschten, konnte ich nur ahnen. Ich hielt mich vornehm im Hintergrund auf und tat so, als hätte ich mit ihnen nichts zu tun. Ralf aber hatte einen roten Kopf und strahlte.

 

Die vier Geschenke, die Ralf schon hatte, waren 2 Shortbread Packungen, ein Stück Christmas Cake und ein Halbliter Flachmann mit echtem schottischem Maltwhiskey, eigentlich für den Opa bestimmt. …. Ralf verfütterte diese Köstlichkeiten von der britischen Insel auf der Fähre von Dover nach Calais an uns.

Nach Deutschland zurückgekehrt und am Montag wieder in der Klasse, saßen sie da, alle in T-Shirts mit drauf gedruckten London Motiven und hielten mir ein XXL-großes T-shirt vor die Nase, das sollte ich sofort anziehen und damit mit Ihnen in die Pause gehen. Alle sollten sehen, wo wir gewesen waren, und dann wollten sie dem Schulleiter auch eins bringen. Taten sie auch, doch der verzichtete darauf, obwohl Susanne ihm sagte, es würde ihm wirklich gut stehen. Spielverderber.

Was unterm Weihnachtsbaum die Beschenkten über Ralfs Auswahl dachten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ralfs Oma, glühender Fan von den Beatles, war jedenfalls begeistert. Ralf erzählte mir später, sie habe es sofort angezogen und am nächsten Tag sei die ganze Familie in T-shirts aus London zum Frühstück erschienen.

„Bullus“

 

Meine erste Bekanntschaft mit „Bullus“ war indirekt. Ich sah und hörte ihn nicht, was ich zuerst wahrnahm, war ein Bollern an der Tür unseres Klassenzimmers und dann, als ich sie öffnete, taumelte ein Junge nicht viel älter als ich herein, mit hochrotem Kopf und kaum vernehmbarem „Entschuldigung bitte“, „Entschuldigung!“.Dass ich es war, der ihm die Tür öffnete, lag daran, dass ich ihr am nächsten saß und es mein Klassenamt in der 6c des Gymnasiums war, die Tür zu öffnen, wenn jemand klopfte und Einlass begehrte. Nun hatte er nicht eigentlich Einlass begehrend geklopft, sondern war von „Bullus“ aus dem gegenüberliegenden Unterrichtsraum buchstäblich hinausgeworfen worden, mit solchem Nachdruck, dass er über den Flur taumelte und gegen unsere Klassenraumtür polterte. „Bullus“, so erfuhr ich von schulerfahreneren Mitschülern, die sich im Lokalkolorit des Gymnasiums besser auskannten als ich, der ich erst seit wenige Wochen diese Schule besuchte, war der Spitzname des Lateinlehrer der 7l, und war bekannt dafür, dass er absolut unnachsichtig, ja brutal, „durchgriff“ , wenn ein Schüler störte, unaufmerksam war, verstohlen Kaugummi kaute, unter der Bank Comics zu lesen versuchte oder seine Vokabeln nicht gelernt hatte. Da konnte es bei wiederholtem Fehlverhalten schon passieren, dass er einen solchen „Lümmel“ mit der rechten Hand am Nacken packte, die Tür mit der linken Hand öffnete und ihn hinaus schupste, mehr oder weniger heftig, wie ihm gerade war.

 

In der Pause, die dem geschilderten Vorfall folgte, zeigte man mir „Bullus“. Er war ein untersetzter kräftiger Mann, mit blitzender Brille. Sein schwarzes Haar

bedeckte nur die oberste Hügelplattform seines Kopfes, dessen steile Hänge ebenso glattrasiert waren, wie sein Gesicht, wodurch seine Ohren übergroß und

überdeutlich in Erscheinung traten. Er eilte leicht nach vorne geneigt mit kurzen entschlossenen Schritten an mir vorbei, sein linker Arm umschlang einen Stapel Klassenarbeitshefte, seine rechte Hand schwenkte die Aktentasche.

 

Ein Jahr später sollte ich ihn richtig kennenlernen. Mit Zittern und Zagen erwartete ich nach den Osterferien des Jahres 1952 seinen ersten Auftritt in der 7l, die nach der Versetzung in die Unter-Tertia ,wie man die siebte Klasse damals noch nannte, meine neue Schulheimat geworden war. Fünfmal in der Woche, und nie fiel eine Lateinstunde aus, erlebte ich ihn bis zur 10. Klasse kampfstierähnlich in unseren Klassenraum einbrechen. Dort erwartete ihn gesammelte furchtsame Aufmerksamkeit. Er unterrichtete mit klaren deutlichen Worten Latein, ließ sich gelegentlich von seiner offenkundigen Begeisterung für diese

Sprache, ihrem wunderbaren Klang, die überragende Klarheit ihrer Grammatik davontragen. Er war „Altphilologe“, beherrschte, wie man munkelte, Griechisch und Hebräisch dazu Gotisch und Alt- und Mittelhochdeutsch, ließ aber auch durchblicken, dass es ihm keine Schwierigkeiten machte, sich auf Italienisch, Französisch und – na selbstverständlich – auch Englisch zu verständigen. Er war in unseren Augen ein Genie. Unerreichbar in seiner Gelehrsamkeit lief er vor uns an der Wandtafel entlang und füllte sie in seiner kleinen präzisen Schrift jede Stunde neu mit den jeweils erarbeiteten neuen Vokabeln und grammatischen Strukturen, die wir am Ende der Stunde übersichtlich in unsere Haushefte zu übertragen und zu Hause zu lernen hatten, um zu Beginn der nächsten Lateinstunde über unseren Lernfleiß und unsere Gedächtnisleistung Zeugnis abzulegen. In jeder Lateinstunde konnten wir ihn kämpfend erleben. Unser Klassenzimmer war seine Arena, in der er seinen aussichtslosen Kampf kämpfte gegen unsere geistige Trägheit und Widerborstigkeit. Mehr als fünf Schülerinnen oder Schüler fragte er aber in einer Stunde nicht ab. So konnte manch ein Schlingel hoffen, dass er für seine Faulheit oder Vergesslichkeit nicht zur Rechenschaft gezogen werden würde, weil andere vor ihm dran waren. Ich erinnere das eine Mal, als mich das Schicksal ereilte. Ich hatte an jenem Tag nicht damit gerechnet, dranzukommen, war ich doch erst kürzlich mit befriedigendem Erfolg überprüft worden, nun aber scheiterte ich kläglich an der Vokabelüberprüfung. Ich sah, wie sich eine steile Unmutsfalte auf seiner Stirn bildete, erinnerte mich sofort an das Schicksal jenes Jungen, dem ich vor einem Jahr die Klassentür der 6c geöffnet hatte. Jetzt ich? Er klappte sein rotes Buch zu, mit Nachdruck, schmetterte es auf den Lehrertisch. Ernst sah er mich an, tieftraurig. Und dann, es war inzwischen totenstill im Klassenzimmer geworden, begann er seine Rede, die wie der Urteilsspruch am Tage des Jüngsten Gerichts klang:

„Gundlach!“, sprach er mit Grabesstimme, „Gundlach!“ Er verharrte, minutenlang, wie mir schien und fuhr fort:

„Gundlach! Heute Morgen bei m Frühstück habe ich noch zu meiner Frau gesagt: Ob der Gundlach wohl seine Vokabeln gelernt hat? Und, und…“ seine Stimme , in der bislang nur ein leichtes Donnergrollen zu vernehmen gewesen war, klang nun wie die Entladung eines Sommergewitters:

„Er hat sie nicht gelernt.“

Seine Arme, die wie zum Schlage ausholend leicht erhoben gewesen waren, Fäuste geballt, ließ er irgendwie mutlos oder resigniert fallen, bittere Enttäuschung im Gesicht, griff nach seinem Notizbuch, schlug es auf, blätterte darin, zog seinen Rotstift hervor und machte eine Eintragung. „Das war eine dicke Fünf!“, sagte er abschließend und wandte sich der Tafel zu. Warum sich sein Zorn über mich so insgesamt gemäßigt und lediglich verbal entlud, weiß ich nicht, vielleicht, deshalb weil ich wegen meines insgesamt lernwilligen und unauffällig braven Verhaltens bei ihm noch keine Vorgeschichte von Widersätzlichkeit angesammelt hatte.

Hatte ich Dr J., wie er im Zivilleben hieß, in der siebten Klasse manchmal gehasst, immer gefürchtet, wichen diese eher negativen Gefühle später einem Respekt, der sich nach der Schulzeit in Wohlwollen, Anerkennung und Nachsicht für seine Skurilitäten wandelte. Von letzterem gab es etliche. Er teilte unsere Begeisterung für Fußball überhaupt nicht. Auch nicht die seiner jüngeren Kollegen für schnelle Autos und schnelle Motorräder. Kopfschüttelnd berichtete er uns, er habe den Mathematiklehrer gesehen, wie er mit seinem kleinen Sohn auf dem Sozius durch den Ort gerast sei.„Was für ein Weltbild wird diesem kleinen Menschen vermittelt, wenn er in so frühen Jahren die Welt an sich vorbeifliegen sieht! Die Welt will doch Stück für Stück entdeckt und gründlich betrachtet sein.“

Es war unser Mathematiklehrer, dessen väterliche Erziehungsmethoden von „Bullus“ missbilligt wurden. Anders als „Bullus“, den wir fürchteten, wenn gleich auch zähneknirschend respektierten, liebten wir unseren mathematischen „Anatol“ , der nach der Pause völlig unauffällig unsere fröhlich schwatzende Klasse zu betreten pflegte und sich durch ein lockeres „Hallo, ich bin schon da!“ mühelos Ruhe und Aufmerksamkeit verschaffte.

Manchmal schob „Bullus“ philosophische Betrachtungen in seinen Unterricht ein: „Das Leben ist wie ein Fluss, es fließt und fließt und mündet im Meer. Wir sind wie Fische in diesem Fluss. Doch nur tote Fische schwimmen flussabwärts. Lebendige Fische schwimmen gegen den Strom, flussaufwärts. Sie bemühen sich doch, sie strengen sich an, sie stemmen sich gegen den Strom. Seid wie lebendige Fische in Eurem Leben. Lasst euch nicht treiben!“

Ich war damals Fahrschüler. Zusammen mit meinem Klassenkameraden Achim fuhr ich mit dem Fahrrad zur Schule, um das Busgeld zu sparen. Jeden Tag 11 Kilometer durch den Wald. Auf halbem Wege kamen wir an eine Stelle, wo ein Flüsschen ganz dicht am Waldweg vorbeifloss. Es war ein sonniger Sommermorgen, und wir beschlossen, mal eben hinein zu springen und die erste Stunde, Latein, zu schwänzen. „Wir sagen einfach, wir wollten nur mal das Gegen-den-Strom-Schwimmen probieren“, meinte Achim, als er schon bis zum Hals im Wasser stand. Doch da packt ihn die unterschätzte Strömung und riss ihn mit. Keine Chance, den eigenen Standpunkt zu behaupten, geschweige denn, gegen den Strom voranzukommen. Ihn rettete schließlich fünfzig Meter flussabwärts ein tiefhängender Erlenzweig, an dem er sich anklammern und sich triefend und prustend und „Bullus“ beschimpfend , aus dem Wasser ziehen konnte.

„Bullus“ hatte noch andere kluge Ratschläge im Ärmel:

„Schaut euch  an, wie die Kühe leben, sie saufen und fressen und kauen wider und schlafen und saufen und fressen und kauen wider…“ Seid nicht wie diese Kühe! Folgt nicht diesem Vorbild. Lest Bücher, denkt nach, hört nie auf, euch weiterzubilden!“

Auch für diesen Spruch fand Achim uneingeschüchtert eine geeignete Anwendung: „ Na, da seid ihr ja wieder“, rief er den Weiß-Schwarzen zu, als wir an einer Weide vorbeifuhren. Dass ihr euch nicht schämt! Immer dieses Saufen, Fressen und Widerkäuen. Denkt doch mal nach! Lest ab und zu mal ein gutes Buch, nicht immer nur die Bild-Zeitung oder lernt Latein!“ Die Kühe glotzten und blieben unbeeindruckt aber widersprachen auch nicht. Nur eine Kuh hob trotzig den Kopf und hatte Widerworte: „Muhhu!“ , klang es aus ihrem Maul, und dann noch einmal kurz aber nachdrücklich: „Muh!“

In der Adventszeit war es an unserer Schule Sitte, dass der Schulchor an jedem Montagmorgen in der ersten Unterrichtsstunde mit brennenden Kerzen in den Händen durch das Treppenhaus und durch die Flure zog und Adventslieder sang. Die Klassenraumtüren blieben, solange der Chor zu hören war, geöffnet, die elektrische Beleuchtung blieb ausgeschaltet, auf dem Adventskranz brannten die Kerzen. Ich erinnere, dass „Bullus“, der uns in der ersten Stunde unterrichtete und dem es vermutlich nicht gefiel, dass er ein paar kostbare Unterrichtsminuten an den Chor abtreten musste, sofort, als der Gesang verstummt war, in die Klasse trat, unser unbeeindruckt einsetzendes munteres Geschwätz grob unterbracht und uns mit einem Bekenntnis seiner frommen Seele überraschte:

„Ich habe soeben unserem Schulchor gelauscht und mir die Gesichter der Sänger und Sängerinnen angeschaut, wie sie vom Kerzenlicht beleuchtet mit glänzenden Augen diese schönen Lieder sangen. Und da habe ich so gedacht. Ja, so hat der liebe Gott uns Menschen gemeint!“

Ich gestehe, dass ich mich noch am selben Abend im Dämmerlicht vor den Spiegel setzte, eine Kerze entzündete und mein Gesicht nachdenklich von allen Seiten betrachtete. Mein Spiegelbild überzeugte mich nicht, auch dann nicht, als ich versuchte, „Kommt ein Schiff geladen…“ zu summen. Immerhin, meine Pubertätspickel wurden vom Kerzenlicht gnädig verschleiert.

Ob unter meinen Mitschülerinnen und Mitschülern noch jemand war, der sich so absonderlich verhielt, weiß ich nicht, habe es auch nie herauszubekommen gewagt.

Nach der zehnten Klasse verließ DR. J. die Schule, hatte das Pensionsalter erreicht. Aber es hieß , er unterrichte nun weiter Latein, Griechisch und Hebräisch an einem Predigerseminar.

Als ich 1962 nach Abitur und Studium meine erste Lehrerstelle angetreten hatte und am Wochenende regelmäßig meine zukünftige Frau in der nahen Stadt besuchte, war dort in der Familie auch der Freund meiner zukünftigen Schwägerin anwesend. Mein zukünftiger Schwiegervater ließ sich durch unseren Besuch nicht davon abhalten, sich am Sonntagnachmittag im Fernsehen, irgendein Bundesliga-Fußballspiel anzuschauen. Er besaß damals schon einen eigenen, schwarz-weißen Fernseher, auf den er sehr stolz war.

Da hörte ich aus dem Munde jenes jungen Mannes, der die Schwester meiner Zukünftigen verehrte, die abfällige gemeinte Bemerkung: „Fußball – eine ganz niedrige Sportart. Wird ja auch mit dem niedrigsten Körperteil ausgeführt.“

Ohne diesen Satz irgendwann oder irgendwo jemals gehört zu haben, kam mir das darin zum Ausdruck kommende Denken bekannt vor. Später erfuhr ich, dass jener junge Mann Seminarist an eben dem Predigerseminar war, wo Dr. J., inzwischen wohl siebzigjährig, noch immer Griechisch, Hebräisch und Latein unterrichtete. So hatte ich eine indirekte späte Begegnung mit meinem Lateinlehrer, die letzte, und nahm die Gewissheit mit nach Hause: „Bullus“ ist sich treu geblieben und noch immer derselbe in seinem Kampf um den Sieg des Geistes über die Trägheit des Fleisches. Und eigentlich sollte man ihn umarmen für diese Bemühung und nicht darüber spotten.

Übrigens, mein Schwiegervater hatte gelassen reagiert: „Ich weise darauf hin, dass so manches Tor durch Kopfball entsteht!“, hatte er freundlich grinsend bemerkt. „Allerding“, fügte er hinzu, “kann man auch einen besseren Gebrauch von seinem Schädel machen.“

Eine späte Frucht meiner Begegnung mit „Bullus“ fiel mir zwei Jahre später in den Schoß. Ich war noch Junglehrer, d.h. ohne lebenslängliche Verbeamtung, war aber schon Klassenlehrer einer 7. Volksschulklasse, die ich bei meiner bevorstehenden Abschlussprüfung leistungsstark und lernmotiviert vorführen wollte. Ich ärgerte mich maßlos über fehlende Hausarbeiten meiner Schüler, den gelegentlichen wie besonders den notorischen. Ich konnte da richtig ausrasten, wenn meine Wut über „bodenlose Faulheit“ aus mir heraus brach. Tobias fertigte mehr nie als selten Hausarbeiten an. Er war ein kleiner schmächtiger Junge mit schlechten Zähnen, schmuddelig gekleidet, am Rande der Verwahrlosung. Ein Schulbrot bekam er wohl nicht mit, wiederholt bemerkte ich, dass sein Klassenkamerad ihm seine Brotbüchse hinhielt. Er war intelligent. Sein Sachinteresse flammte oft heftig und unabweisbar auf, mich und seine Mitschüler überraschend . Seine gescheiten Fragen brachten mich gelegentlich aus dem Konzept. Ihn schrie ich eines Tages, als er wieder mit leeren Händen vor dem Lehrertisch stand, so furchterregend an, dass er plötzlich Halt suchend nach der Tischkante griff. Er murmelte: „Mir wird schlecht!“, und sank zu Boden. Hatte ich ihn ohnmächtig geschimpft? Schon während ihn zwei kräftige Jungen aufhoben und auf den Lehrertisch legten, stabile Seitenlage, fiel mir „Bullus“ wieder ein, und ich schämte mich tief und nachhaltig. Nun, Tobias erholte sich schnell, setzte sich wieder auf seinen Platz. Dort steckte ihm sein Sitznachbar die Hälfte seines Frühstücksbrotes zu. Als ich am Nachmittag die Eltern aufsuchte, um mich zu entschuldigen und um mich zu erklären, lernte ich seinen familiären Hintergrund und seine Wohnverhältnisse kennen und habe ihn von da an in Ruhe gelassen, weil ich gar keine Möglichkeit sah, wie er in diesem Elend jemals würde Schularbeiten machen können.

Wieder ein paar Jahre später, ich baute (und ließ bauen) mein Eigenheim, suchte ich eine Eisenwarenhandlung auf, um ausgefallene Messingbeschläge für meine Terrassentüren zu kaufen. „Da muss ich passen!“, sagte der Verkäufer. „Da kann Ihnen nur Herr S. helfen, der kennt sich wirklich aus.“

Und dann stand Tobias vor mir, eleganter Abteilungsleiter-Kittel, Stift hinterm Ohr, ernst, freundlich, schlank, selbstbewußt, Ehering an der rechten Hand, kompetent und seriös. Wir erkannten einander sofort. Er drückte unbeschwert lächelnd meine Hand, die ich ihm spontan entgegengestreckt hatte.

Immer wenn ich später als Lehrer wieder rückfällig wurde und den Hausarbeiten überproportionale Aufmerksamkeit und Erregung widmete, fiel mir „Bullus“ ein und meine Geschichte mit ihm.

 

Und das ist einer der Gründe, weshalb ich sie hier erzähle.