Wie ich lebe
ist verdeckt,
tarne mich in Reimen
Hab' mein Gefühl
in sie gesteckt,
sage es so
indirekt
um nicht
still zu weinen
*
Mich entdecken
statt verstecken
Und anstatt mich zu verstellen,
Besser wär's,
mich vorzustellen
Und irgendwann,
ach...immerhin,
werd' ich die sein, der ich bin.
Die Entscheidung
„Also, wir treffen uns heute, Mittwoch, 18. Oktober um 15.00 Uhr am Parkplatz Angelbecks Teich, machen einen Spaziergang und sitzen dann bei Kaffee und Kuchen in der Alten Fuhrmannsschänke. Tisch habe ich bestellt.“
Wie nett von Babara dieses Treffen für vier alte Freundinnen, Gunda, Helga, Sonja und Barbara durchzustylen, vier alte Weiber, hätte Sonja beinahe gesagt, passend zur Jahreszeit, die im Volksmund immer noch „Altweibersommer“ heißt. Sonja sieht sofort die günstige Gelegenheit, ein bisschen Öffentlichkeit in ihr Leben zu bringen, das in den eigenen vier Wänden zu ersticken droht.
Ein Duschbad mit gründlicher Haarwäsche ist diesem Ereignis angemessen, auch die nachfolgende kalte Dusche und ein gemächliches Abdampfen auf dem Sofa, seelische Einstimmung auf eine Begegnung mit echten Menschen, freundlich gesonnenen, die sich ihrerseits innerlich rüsten für den Augenblick einer Wiederbegegnung, längst geplant, zurückgestellt wegen gesundheitlicher Probleme vielfältiger, teils dramatischer Art.
Sonja schaut auf die Uhr, in drei Stunden muss sie sich auf den Weg machen, eine Stunde wird sie dann brauchen, um pünktlich anzukommen.
Nun beginnt die „Heilige Handlung“, wie sie es nennt, wenn sie sich „einkleidet“.
Noch im knöchellangen lila Bademantel, innen frottiert, außen seidig glänzend, legt sie ihre Unterwäsche aus: die blickdichten Kniestrümpfe, den rosa Taillenslip aus Feinripp Baumwolle und Elasthan, passend dazu das BH-Hemd. Sie freut sich am Anblick dieser intimen Kleidungsstücke, streicht mit der Hand darüber, frisch gewaschen und duftend. Niemand wird ihre Unterwäsche sehen, aber sie wird wissen, was sie am Körper trägt. Und das wird ihr ein gutes Gefühl geben.
Sonja zögert, als sie sich ihrem Kleiderschrank näherte, in dem sie hängen, ihre Schätze, in Reih und Glied, Gefährtinnen ihrer Ausflüge, ihrer Abenteuer, ihrer Freude. Das sinnliche Vergnügen, einen schwingenden Rock zu tragen, dessen Saum die Beine umspielt, ein dazu passendes Oberteil, dessen weicher Stoff körpernah den Hals liebkost. Ach ja!
Nun müssen Entscheidungen getroffen werden zwischen waghalsig, mutig und vorsichtig. Es würde wieder zwiespältig werden. Immer diese Entscheidungen. Immer diese Rücksichtnahmen auf eine unübersichtliche Vielzahl von Bedingungen:
Wie ist das Wetter? Wo geht es hin? Wer würde sie dort sehen? Wer in ihrer Nähe sein. Was ist dort zu erwarten? Vorsichtige Reserve? Kritische Würdigung? Nonchalance? Großmütig oder gleichgültig?
Und was wird von ihr erwartet? Wagemut? Zurückhaltung? Unauffälligkeit? Glamour?
Müsste sie all ihren Mut zusammenraffen oder dürfte sie gelassen und ruhig das Abenteuer wagen. Es sollte doch ein bisschen abenteuerlich sein, ein bisschen Risiko, ein bisschen Wagnis. Ein bisschen über dem Level von gleichmütig geschehen lassen. Und ein bisschen unerprobt.
Einige Entscheidungen sind schon gefallen. Wieviel Bein wird zu sehen sein, wieviel Figur, wieviel Nachbesserung derselben wird ihr selbst und den kritischen Augen zumutbar sein.
Immerhin, es kommen weder Hose noch Kleid, nur Rock und Bluse in Frage.
Hose deswegen nicht, weil es dann eine Damenhose sein müsste und Sonja dieses heute von Frauen bevorzugte Kleidungsstück als von Frauen widerrechtlich angeeignet ansieht. Nie hat sie verstanden, geschweige denn gebilligt, dass Frauen zunehmend auf Röcke verzichten und sich stattdessen sich in enge Hosen zwängen.
Kleid kommt auch nicht in Frage. Handelsübliche Kleider für eine Frau von 1.85 m Körpergröße sind immer zu kurz, und ein ansehnlicher Sitz setzt eine gut gepolsterte Hüft- und Beckenregion voraus. Es sieht nicht gut aus, wenn das Kleid um die schlanken Lenden schlottert. Schade eigentlich.
Sonja erinnert sich:
Sie mochte 17 Jahre alt gewesen sein, als ihr Bruder heiratete, und seine hübsche Frau mit ihren schönen Kleidern ins Haus einzog. Eines dieser Kleider, ein rosarotes Ballkleid, enge Taille, weitschwingender Rock, wurde bald mangels Gelegenheit zum Tragen ausgemustert und in einem alten Kleiderschrank auf dem Dachboden den Motten zum Fraß dargeboten. Sonja entdeckte dort diesen Traum von einem Kleid und zog es heimlich an, drehte sich darin vor dem alten Spiegel, betrachtete sich und zog es mit schlechtem Gewissen schnell wieder aus, hängte es mit zitternden Fingern zurück in den Schrank.
Also Rock und Bluse, daraus folgen mindestens knielange Strümpfe und etwas Unauffälligkeit der Oberweite.
Zunächst der Rock. Keine Maxilänge, weil der beim Autofahren selbstschädigende Risiken trägt, kein kurzer Rock, der den Blick auf die kräftigen Waden und die knubbeligen Kniee lenkt.
Also, ein mittellanger Rock, ein Bahnenrock, der in hübsche Falten fällt und Lendenfülle vortäuscht. Darf er schwarz, einfarbig oder buntgemustert sein?
Der Schwarze hat die richtige Länge. Sogar zwei seitliche Taschen für Taschentuch und kleinem Portemonnaie und dem Autoschlüssel, eigentlich nicht erforderlich, da sie eine Handtasche tragen wird, die all dies und noch mehr aufnehmen wird.
Der Blümchenbunte ist zu sommerlich und gänzlich ohne Faltenwurf.
Der dezent gemusterte Bordeauxfarbene fällt in weichen Falten, ist gefüttert und fühlt sich gut an, das Satinfutter streichelt die Beine. Er wurde am Bund erst kürzlich mit zusätzlichen Gürtelschlaufen nachgerüstet, um einen horizontalen Sitz verlässlich zu gewährleisten.
Und bei dem Jeansfarbigen ebenfalls in Frage kommenden Rock entsteht beim Tragen das Risiko, dass sein Bund bei der zu erwartenden Beanspruchung, langer Spaziergang, ihrem Bauch und dessen Schwerkraft nicht standhält. Der würde rutschen.
Gut, der gemusterte Bordeauxrote soll es sein. Er hat gegenüber dem Schwarzen den Charme des Neuen. Sonjas türkische Freundin hatte ihn vor Jahren knöchellang für sie geschneidert und ihn erst kürzlich auf Wadenlänge gekürzt und aus dem abgetrennten Stoff die zusätzlichen Gürtelschlaufen gebastelt.
Die Entscheidung für diesen Rock setzt der nachfolgenden Grenzen.
Es kommt nur ein einfarbiges passend zur Rockfarbe farblich abgestuftes Oberteil in Frage.
Ein Pullover in passender Farbabstufung wäre vorhanden aber wohl zu warm für einen Spaziergang im zu erwartenden lauwarmen Altweiberwetter, goldener Oktober.
Also wendet sich Sonja den Blusen zu. Da hängen sie, sorgfältig aufgereiht, frisch gewaschen, liebevoll gebügelt. Was für eine verwirrende Vielfalt an Farben enthält ihr Schrank, der Zeugnis ablegt von einer jahrzehntelangen Faszination für schlichte Eleganz, sanfte mitunter dramatische Farben, entschieden weiblichem Schnitt.
Bordeauxrot, farbstarkes Pink, zartes Rosè, weiches Babyrosa, fliederfarben helles Lila, blaurotes Sommerflieder-Lila, Alpenveilchen-Rosarot, Heideblüten-Rot.
Wie sie diese Rottöne liebt, gar nicht genug davon kann sie haben. Dies ist ihre Farbe, Sonjas Farbe, keine andere kommt ihr gleich, kein grün, kein blau, kein braun, kein gelb.
Zugegeben, zum schwarzen Rock würde die gelbe Bluse eindrucksvoll, wenngleich etwas hart, kontrastieren, auch zu dem blauen Rock, aber der ist ja schon aus guten Gründen ausgeschieden.
Alle irgendwie in Frage kommenden Blusen probiert Sonja vor dem Spiegel, hat sich in allen Kombinationen bereits selbst fotografiert Und doch. Sie kann sich nicht entscheiden und greift nach der langen Blusenjacke, sportlich-informell, zu ihrem Bedauern unisexartig, deren Khaki der Musterfarbe ihres Rockes entspricht.
Richtig zufrieden ist Sonja mit ihrem Erscheinungsbild nicht, sie hätte es doch gern ein bisschen bunter, ein bisschen ausdrucksvoller, wenn nicht gar spektakulärer gehabt, zu viel Rücksichtnahme auf das riesengroße „…als alte Frau trägt man…“
Schmerzlicher Verzicht bedeuten diese Entscheidungen, Verzicht auf die rotweiße Blümchenbluse, Verzicht auf das Twinset bordeauxrot und grün gemustert, Verzicht auf das schwarz-bordeauxrot-weiß gemusterte lange Oberteil eines Ensembles, zu dem ein gleich gemusterter Plisseerock gehört, Verzicht auf ihr Lieblingsstück, das überlange ethnisch bunt gemustertes Top mit den Trompetenärmeln, zu dem ein ebenso gemusterter Rock gehört, Verzicht auf das zu tief ausgeschnittene kurzärmelige Top, schwarz mit weißen Punkten, das sie unter der grauen Kostümjacke trägt, wenn es sie gelüstet, ein seriöses Erscheinungsbild von sich zu projizieren: zur grauen Kostümjacke ein ebenso grauer Godet-Rock, old lady, ever so lovely.
Doch das Outfit für das Treffen mit den drei langjährigen Freundinnen ist nun perfekt.
Hätte nicht vielleicht doch …? Ein bisschen mehr Farbe…?
Nun ist es „dezent“ geworden! Wie es sich für eine alte Dame gehört.
So dezent, wie sein Erscheinungsbild war, als er noch grau in grau im weißen Hemd und mit Krawatte die Würde seines Amtes vertrat und voller geheimer unterdrückter Begierde in den Wochenzeitschriften die bunten Berichte über Mode-Events anschaute, sich in die traumhaften Gewänder hineinfantasierte und alles tat, um dabei nicht erwischt zu werden.
Kaffeefahrt
Es ist wieder so weit, er muss wieder los. Er spürt die Unruhe in sich aufsteigen, sich ausbreiten, ihn ganz und gar erfassen. Dieses prickelnde Gefühl, endlich wieder in sein anderes verborgenes Leben einzutauchen. Was geht ihm da nicht alles durch den Kopf: die Selbstpreisgabe, das Risiko der Entdeckung, der Verspottung, der Häme, der Zurückweisung, der öffentlichen Entrüstung. Ja, total lächerlich könnte er sich machen, man könnte tuscheln hinter seinem Rücken, er wäre unten durch, im moralischen Abseits, Verdächtigungen aller Art, wie sie schlimmer nicht sein können, würden aufblühen, alles was er sich erarbeitet hat, könnte gefährdet, vielleicht sogar verloren sein, wenn er untragbar würde, in seinem Beruf, seinem Amt, im ganzen Dorf. Er würde sein Haus verkaufen müssen und wegziehen, seinen Vorgesetzten erklären müssen, weshalb sie ihm einen anderen Einsatzort verschaffen müssten. Das wäre das Peinlichste, was ihm widerfahren könnte.
Rigoros schiebt er seine Bedenken und Ängste beiseite. Es wird schon alles gut gehen, war immer gut gegangen in den zurückliegenden fünf Jahren, in denen er mit zunehmender Häufigkeit seine Kaffeefahrten unternommen hatte, unternehmen musste, aus diesem ihm selbst unerklärlichen, unabweisbaren inneren Zwang heraus. Da wird einfach niemand sein, der ihn erkennt, immerhin fährt er ja gut eine Stunde zu dem Ort, unwahrscheinlich, dass irgendjemand aus seinem Wohnort sich dort zufällig aufhalten wird. Und wenn schon, tut er denn etwas Verbotenes?
Mindestens eine Stunde braucht er, um ein angemessenes Erscheinungsbild seiner selbst herzustellen. Lange steht er vor dem Spiegel, rasiert sich mit peinlicher Sorgfalt und bedient sich der großen Vielfalt teurer Mittelchen zur Verschönerung seines Gesichts. Auch seinen Haaren widmet er zeitraubend Aufmerksamkeit, bis jede Strähne sich dort krümmt oder kräuselt, wo und wie sie soll.
Die Kleidung, die er heute wählt, ist von dezenter, unauffälliger Eleganz. Man hat ihn gut beraten, hier stimmt jede Farbnuance seiner Schuhe, seiner Oberbekleidung, seines Schals, seines Mantels. Den gestandenen Frauen, denen er bald gegenübertreten wird, reife Damen, kritisch, detailversessen, modebewusst wird kein Missgriff entgehen.
Schließlich noch ein prüfender Blick in den großen Spiegel der Garderobe - ja, perfekt, sogar die Tasche passt zum Outfit. Er schließt die Eingangstür hinter sich, ein kurzer prüfender Blick die Straße hinauf und hinunter, mit Schwung öffnet er die Tür seines Zweisitzers, dreht den Schlüssel, der Motor springt an, vom Einstellplatz rückwärts auf die Straße und los.
Sein Auto scheint den Weg zu kennen, oft ist er hier schon gefahren, im letzten Jahr einmal wöchentlich bestimmt. Eine gute Stunde Fahrt liegt vor ihm, zügig aber konzentriert. Ganz schlimm, wenn ihm heute ein Fehler unterliefe und er sich einem Polizisten gegenüber erklären müsste. Das wäre das Ende.
Raus aus dem Dorf! Endlich! Er schaltet das Radio ein, NDR 1, die alten Songs aus seinen jungen Jahren. Er beginnt sie mit zu summen, mit zu singen. Schließlich laut mit voller Stimme: If you’re going to San Francisco… Eine große Ruhe überkommt ihn. Alles wird gut, alles ist gut. Dieses schöne Gefühl. So völlig mit sich im Reinen: „So will ich sein, so und nicht anders.“ Er sagt es laut vor sich hin. Im Innenspiegel kontrolliert er sein Aussehen. Ja, alles stimmte, so würde er auftreten, so kann er auftreten. Niemandem wird er auffallen, niemand wird die Nase rümpfen und zu tuscheln beginnen.
Jetzt durch eine kleine Stadt. Aufpassen, nichts riskieren, langsam, langsam, Nerven behalten. Noch eine Ampel, natürlich rot. Warten, und dann los, raus aus der Stadt. Nicht mehr weit. Sein Ziel auf freier Strecke, rechts am Straßenrand. Da ist es. Nicht viele Autos heute, der Parkplatz fast leer. Und auf den Auto-Kennzeichen kein GF. Das wird einfach, da wird ein Tisch frei sein, ganz für ihn allein.
Er steigt aus, streicht seine Kleidung glatt, greift nach seiner Tasche. Entschlossen schreitet er auf die Eingangstür zu. Dahinter werden Leute sitzen, Damenkränzchen wie meistens. Natürlich werden sie gucken, ihn in Augenschein nehmen, wie sie jeden kritisch beäugen, der ihr Cafè betritt. Er öffnet die Tür, tritt ein. Die Damen schauen ihn an, mustern ihn kurz, ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen, wenden sich wieder ihren Tortenstücken zu. Alles OK! Die Garderobe ist neben einem freien Tisch. Sehr gut, denn der Tisch steht an der Wand. Das bedeutet Rückenfreiheit und einen unverstellten Blick auf das ganze Cafè. Hier ist es richtig. Er zieht den Mantel aus und hängt ihn auf. Seine Jacke sitzt perfekt. Neidische Blicke von einem Nachbartisch, Qualität und Schick bekommen Anerkennung. Er setzt sich, behält die Eingangstür im Auge. Die Kuchenfee kommt mit dem Bestellblock. „Wie immer?“, fragt sie. Er nickt.
Was für ein Glück! Wie gut, dass man ihn hier schon kennt. Hätte er selber die Bestellung aufgegeben, hätten sich die Köpfe in seine Richtung gedreht, so aber streifen ihn nur gleichgültige Blicke. Danke, liebe Kuchenfee! Ganz ruhig wird sie jetzt, ganz entspannt. Ach, wie ist das schön. Hier gehört sie hin, hier darf sie sein, wer sie wirklich ist.
Sie bringt den Kaffee, und die Buchweizentorte. „Guten Appetit!“, wünscht sie, „Danke“, haucht Sonja, und noch einmal, „Danke“. Ganz langsam und genüsslich verzehrt sie nun ihre Torte, nippt an dem Kaffee, lässt sich Zeit, genießt jede Minute. Was für ein Gefühl! Endlich wieder zuhause. In ihrer eigentlichen Haut. Bei ihr zuhause.
Sie lauscht den Gesprächen am Nachbartisch, versteht nicht jedes Wort, aber die Themen interessieren sie und die Art, wie sie vorgetragen werden. Und die Art, wie Frauen miteinander umgehen, wenn sie unter sich sind und einander begrüßen, sich von einander verabschieden, sich wechselseitig positiv verstärken, Details ihrer Kleidung begutachten, loben, ein gutes Gefühl geben, und zuhören, zuhören…Während sie in kleinen Bissen ihr Tortenstück genießt und ab und zu an ihrem Kaffee nippt, versink sie in Erinnerungen und phantasievollen Erlebnissen. Er war wieder Kind, schlich in seiner dörflichen Nachbarschaft am Zaun zum Nachbargrundstück entlang, wo Mädchen „Vater-Mutter-Kind“, oder „Hochzeit“ oder „Schule“ spielen. Vorsichtig und nur flüchtig versucht er, einen Blick auf die spielenden Mädchen zu erhaschen, vorsichtig, denn weder wollte er riskieren, von den Mädchen zum Mitspielen eingeladen zu werden, so sehr er gerade das heimlich wünschte, noch durfte sein Interesse an diesem „Mädchenspiel“ den Schulkameraden bekannt werden. Er würde unweigerlich verspottet und bloßgestellt werden. Niemals hatte ihm jemand verboten, sein Interesse an Mädchenspielen zu offenbaren, es war trotzdem eingebrannt in seiner Seele, dass es zu den absolut verbotenen Dingen gehörte, die fraglos und wie selbstverständlich einem Jungen nicht erlaubt waren, verbotener jedenfalls als in der Weihnachtszeit vom auf dem Schlafzimmerschrank versteckten Honigkuchenteig zu naschen, fast so verboten, wie Geld aus der Kollektenschale zu stehlen oder so schlimm verboten, wie hinter der verschließbaren Badezimmertür die Kleider seiner Mutter überzustreifen. Dabei genügten schon die blusenartigen Oberhemden und Cordjacken mit schrägen Reißverschlusstaschen, die seine Mutter ihm schneiderte, und die zu tragen er nicht ablehnen konnte, oder mochte, da sie ihn bei seinen Klassenkameraden verdächtig machten, verdächtig, kein richtiger Jungen zu sein.
Seine Mutter schneiderte gern und besonders gern für ihn. Der ältere Bruder wußte sich zu wehren. Und wenn sie eines Stoffes habhaft wurde, legte sie los, und sobald es fertig war, musste er das neue Kleidungsstück anziehen und wurde darin verpackt zu ihrer Freundin geschickt, die ein paar Straßen weiter wohnte, die dann die Kunstfertigkeit seiner Mutter bestaunte und „ach wie reizend, wie allerliebst“ ausrief. Dabei waren die Sachen durchaus nicht eklatant weiblich, kein Rüschen, keine abgerundeten Kragen aber dennoch unverkennbar feminin im Schnitt, den er im vorpubertärem Alter durchaus wahrnahm, zwiespältig erlebte, einerseits verschämt und peinlich berührt, andererseits lustvoll tabubrechend, wie Kirschen pflücken in Nachbars Garten, und so ist es bis heute geblieben, angestrengt verborgen gehalten und dann wieder lustvoll gelebt. Aber auch schmachvoll durchlitten.
Er einnerte sich an eine traumatisch erlebte Szene auf dem Pausenhof des Gymnasiums. Er war seit Ostern in der sechsten Klasse, zwei Klassenkameraden der fünften Volkschulklasse waren nach den Osterferien des Jahres 1959 mit ihm auf das Gymnasium hinübergewechselt, sie allerdings wollten dort die fünfte Klasse des Gymnasiums wiederholen. Für ihn war es ein anspruchsvollerer Wechsel, denn ihm fehlte ja ein Jahr Englischanfangsunterricht, den nachzuholen schwierig werden würde. Aber sein Klassenlehrer in F. hatte eine dringende Empfehlung geschrieben und nach mehrmaligem Einflußnehmen auf seinen Vater dessen Einwilligung erwirkt. Und er wurde ein guter Schüler, war bald allen anderen intellektuell überlegen, war das Arbeiter-Kind in einer großbürgerlichen Gemeinschaft von Internatsschülern, Landadel, Lehrer-und Pastorenkinder, schrieb immer die besten Aufsätze, mogelte nie, arbeitete hart für die Schule, das lenkte ab. Doch eines Tages stand er mit dem Rücken am Zaun dort auf dem Platz, neben ihm zwei ,drei schnellgewonnene Freunde. Seine Mutter hatte ihn herausgeputzt für den Besuch des Gymnasiums, für sie als Celler Handwerkerskind so jenseits aller Realisierungschance eines gesellschaftlichen Aufstiegs: eine dunkelgrüne Cord-Samt Kniebundhose, und eine Jacke aus demselben Material, mit schräg geschnittenen Taschen. Der Wortführer musterte ihn von oben bis unten und machte eine Bemerkung: Wie siehst Du denn aus? Na, hat Dich Deine Mama fein gemacht? Und die anderen stimmten höhnisch mit ähnlichen Bemerkungen ein und reihten sich ein in die größer werdende Riege der Schmäher. Plötzlich stand er ganz allein am Zaun, „mit dem Rücken an der Wand“, und alle gegen ihn. Das Klingelzeichen rettete ihn vor weiterer Erniedrigung.
Doch da war auch Bestätigung und neue Freundschaft in dieser sechsten Klasse. Er saß neben einem Jungen, Sohn eines adligen (Graf) Amtsrichters in B., bei C. Er hatte etwas Mädchenhaftes an sich. Mit ihm war er bald befreundet, beneidete ihn um seine Umgangsformen, seine Kleidung, seine kultivierte Familie (war öfters Gast dort, nahm mit großen Augen die Umgangsformen dort bei Tisch wahr, besonders die seines Freundes gegenüber seiner Mutter). Leider wurde sein Vater an das Oberlandesgericht in C. berufen und dort zog die Familie hin. Sie blieben jedoch in brieflichem Kontakt, einmal besuchte er seinen früheren Freund in C. und kehrte tief enttäuscht nach F. zurück. Sein Freund hatte immerzu von seinen Eroberungen und Parties gesprochen, prahlerisch irgendwie eine Fassade von ganzem Kerl errichtet. Natürlich würde er Jura studieren. Sein kleinerer Bruder, der große Schwierigkeiten hatte, das Abitur zu bestehen, würde dann eben Chirurg werden, weil er doch so handwerklich begabt sei. „ Und Du, was studierst Du?“ Er traute sich kaum Volksschullehrer“ zu sagen. Der Briefwechsel war danach eingeschlafen und seine Selbstachtung hatte er dadurch bewahrt, dass er einen gewissen Proletarierstolz entwickelte auf seine überragenden schulischen Leistungen und seinen körperlichen Einsatz zuhause beim Aufbau der Gärtnerei, bei der sein Vater seine beiden Söhne total beanspruchte.
Und während er bis an seine körperliche Leistungsgrenze ging, seinem Friedhofsgärtner Vater vor der Schule noch mal eben beim Ausheben eines Grabes zu helfen, wollte er definitiv so sein wie Mädchen und Frauen, beneidete sie um ihr Mädchen-und Frausein, später sogar seine Töchter , wenn sie, schwanger, ihn besuchten oder nach ihrer Entbindung sich dann bei ihm einfanden, um ihre Babies vorzuzeigen und sich dabei gelegentlich in eine Sofaecke zurückzogen, um ihre Babies zu stillen (“Kein Problem, Kind hat Hunger, habe ja alles dabei”, und packte ihre Brust aus.) Er beneidete sie um ihr Mutterglück, die animalische Nähe zu ihren Kindern. Dabei hatte er als Schüler treue Freundinnen, mit denen er lange tiefsinnige Gespräche führte, ins Kino ging, Konzerten lauschte, und war während des Studiums mit drei Mädchen bekannt, von denen er eine am Ende des Studiums heiratete. Seine Lebenssehnsucht hielt er tief verborgen, fast glaubte er selbst nicht mehr daran, dass er sie hatte.
Sonja schlägt ihr Notizbuch auf, ein Tagebuch.„Heute wieder im Cafè gewesen, Fürchterliche Angst gehabt, vorher, bin ganz ruhig geworden, als ich aus dem Ort war. Kein Stau unterwegs. Auf dem Parkplatz nur wenige Autos. Mein blaues Kostüm hat Eindruck gemacht. Der Rock ist ein bisschen eng, aber auch schön eng, wie er meine Beine umschließt, und sanft streichelt. Und das Gefühl, wenn der Wind um meine nur dünn bekleideten Knie fächelt. Wie ich das liebe! Wieder überkam mich das irre Bedürfnis, aufzustehen und um Aufmerksamkeit zu bitten für eine kleine Ansprache, eine Selbstoffenbarung, die mit der Frage enden würde, ‘Schaut mich an. Hat jemand etwas dagegen, dass ich hier so erscheine, wie ich bin? Beleidigt es jemanden? Kränkt es jemanden? Nimmt irgendjemand Anstoß, aus irgendeinem Grund? Ich möchte in Eurer Mitte sitzen und dazugehören. Nehmt mich bei Euch auf!‘
Natürlich sagte ich das nicht, doch irgendwann werde ich es sagen, sagen müssen.“
Sie klappt ihr Tagebuch zu. Nun kommt der Höhepunkt: Sie greift in die Tasche, holt eine Puder-Kompakt-Dose heraus, klappt sie auf. Schaut in den Spiegel, repariert ihr Makeup. Greift erneut in die Tasche. Ihre Hand hält einen Lippenstift. Mit geübtem Schwung zieht sie ihre Lippen nach. Steckt Dose und Lippenstift in die Tasche, fischt ihr Portemonnaie heraus und legt einen Schein auf den Tisch. Noch ein schneller Blick in die Runde, niemand hat etwas gemerkt, wirklich nicht? Wird dort drüben nicht getuschelt? Ach, egal!
Sonja steht auf, nimmt ihren Mantel vom Garderobenhaken und zieht ihn an. Mit elegantem Schwung schultert sie ihre Handtasche, blickt wie zufällig in den goldumrandeten Spiegel, lächelt zufrieden, nickt der Kuchenfee zu, die am Tresen steht und ihr zuwinkt. „Gute Fahrt, danke für Ihren Besuch. Bis zum nächsten Mal“, heißt das Winken und lächelnd verlässt Sonja diesen gastlichen Ort, an dem sie sich willkommen fühlt.
Aufatmend fällt sie in die Polster ihres Autos und fährt los, fährt zurück in sein Dorf, zu seinem Haus, zurück in die andere Welt. Seine Welt?