Romantisches 3 (Prosa)

Das Weihnachtsgeschenk

 

Es war die vorletzte Stunde vor den Weihnachtsferien und unsere Lehrerin ließ uns Kerzen, Weihnachtsbäume, Sterne und Rentiere malen, die hochbepackte Schlitten zogen. Nur ein schmaler Gang zwischen der mittleren und der  linken Zweier-Bank-Reihe trennte mich von Ingrid, die schon seit sechs Jahren neben mir saß, in der Reichweite meines linken Arms. Seit der ersten Klasse.

Dass ihre Haare glatt und lang waren, hatte ich eines Tages bemerkt, als ihr beim Sportunterricht ein Missgeschick passiert war. Der rechte ihrer zwei braunen Zöpfe, die sie als „Affenschaukel“ trug, hatte sich aus seiner Verankerung gelöst und war heruntergefallen, wobei sich auch noch die blümchenverzierte Spange am Ende des Zopfes geöffnet hatte, so dass der Zopf neu geflochten werden musste. Die Spange war auf den Boden gekullert, mir vor die Füße. Ich hatte sie aufgehoben und sie ihr in ihre ausgestreckte Hand gelegt, die sie zu einer kleinen Schale geformt hatte. Ihr Aufatmen deutete ich als Erleichterung. Es schien einer kostbare Spange zu sein, für sie, die keinerlei Schmuck trug, vielleicht ein kostbarer Besitz, Sie hatte, kaum hörbare, „Danke!“ gesagt und mich mit einem langen Blick angeschaut. Die Reparatur, bei der ihr die Nachbarin half, hatte einige Zeit in Anspruch genommen, die ich genutzt hatte, um mit Seitenblicken zu erfahren, wie Mädchen konstruiert sind.

Dass Mädchen einen Scheitel haben, der von der Stirn bis in den Nacken reicht, war mir natürlich längst aufgefallen. Dass Mädchen schon mit Zöpfen geboren werden, hatte ich früher einmal geglaubt. Inzwischen wusste ich, dass es dem Geschmack der Mama obliegt, sie zu Schnecken zu drehen oder als Haarkranz um den Kopf zu winden oder gar die Enden nahe der Kopfhaut so zu befestigen, dass zwei kunstvolle Schlaufen, gewissermaßen zwei übergroße Henkel an einer kostbaren Vase, links und rechts den Mädchenkopf zieren. Diese „Affenschaukeln“ – nur respektlose Frechdachse nannten sie so - hatten wohl den Zweck, Vätern und Müttern beim gemeinsamen Sonntagsspaziergang einen handlichen Zugriff auf ihre Töchter zu ermöglichen, um sie festzuhalten, wenn sie ausreißen wollten.

Ingrid sah eigentlich ganz akzeptabel aus, trotz dieser Haartracht. Ich blickte oft zu ihr hinüber, doch schnell wieder weg, wenn sie mein Interesse zu bemerken schien, denn es war mir peinlich, dass sie seit etwa einem halben Jahr ein unverschämtes Interesse an mir bekundete und immerzu in meine Nähe drängte. Sie steckte mir vor aller Augen Bonbons zu und bestand darauf, dass ich sie in den Mund schob. Sie fragte unweigerlich wenig später nach, ob sie mir schmeckten und ich noch einen haben möchte. Sie hielt mir in der Pause ihr Frühstücksbrot, von dem sie schon abgebissen hatte, zum Probieren vor den Mund, so dass mir der Räucherduft der leckeren Schinkenwürfel, mit dem es belegt war, unwiderstehlich in die Nase stieg,.

Wenn ich mich ihrer Aufforderung unterwarf und meine Zähne möglichst weit entfernt von der Bisswunde, die sie dort hinterlassen hatte, in die verführerische Doppelscheibenhälfte schlug, biss sie sofort exakt dort ab, wo ich nur Sekunden zuvor meine Marke gesetzt hatte. Ich tat alles, um ihr zu verstehen zu geben, wie völlig gleichgültig sie mir war und dass Mädchen ohnehin als ernstzunehmende Spielkameraden nicht in Frage kamen, weil jede Kontaktaufnahme zu ihnen seitens meiner Fußball-, Cowboy- und Indianer-Klique mit Verachtung bestraft wurde. Dennoch beobachtete ich sie heimlich von der Seite bei fast jeder ihrer Bewegungen, fasziniert von ihrem Anders-Sein, gleichzeitig auf der Hut, dass mein zunehmendes Interesse nicht ruchbar wurde. Immerhin hatten schon einmal die Anfangsbuchstaben unserer Namen, kunstvoll ineinander verschlungen und mit roter Kreide herzförmig eingekreist, nach der großen Pause an der Tafel gestanden. Ich hatte mich  nicht getraut, sie abzuwischen. Doch wenn einer meiner Freunde eine anzügliche Bemerkung machte, dann sagte ich nur: „Ach, die“, und machte eine wegwerfende Handbewegung, setzte aber meine heimlichen Beobachtungen fort.

Heute schob sie ihren Malblock beiseite und legte einen Zettel vor sich, auf den sie etwas kritzelte, was ich aber nicht erkennen konnte, weil sie ihr Federetui als seitlichen Sichtschutz davor gestellt hatte.

Gegen Ende der Stunde, ich war inzwischen in das auf meinem Malblock entstandene Kunstwerk – ein wunderschönes Christkind – vertieft, da huschte ihre rechte Hand zu mir herüber, und ein zusammengefaltetes Stück Karopapier, wie ein kleiner Briefumschlag gefaltet mit etwas Knubbeligem drin, lag plötzlich auf den gelb-goldenen Locken meines Engels. Ich griff sofort danach, sah die kleine Kerze und den Tannenzweig, drei, vier handschriftliche Zeilen, entzifferte den Schriftzug „Frohes Fest“ und steckte das Päckchen in die Hosentasche, weil niemand meiner Kameraden diese Feindberührung mitkriegen und mich deswegen verspotten sollte.

In der Pause vor der letzten Stunde ging ich auf die Toilette und fummelte dort in der engen dunklen Zelle das Karopapier aus der Hosentasche. Das schmutzige Taschentuch, das meine zittrige Hand mit herausgezogen hatte, stopfte ich wieder hinein.

Klopfenden Herzens betrachtete ich das knittrige graue Päckchen aus Karopapier mit der daraufgemalten Kerze und dem Tannenzweig, der wie ein grünes

Kreuz aussah. In ihrer links geneigten Schrift auf der Vorderseite die Worte, jeweils in einer Zeile: „Mein Geschenk“, darunter: „Für Dich“, und dann „Zu Weihnachten“. In grüner Farbe darunter der Schlusssatz „Frohes Fest!“

Mit spitzen Fingern entfaltete ich das Briefchen. Etwas fiel zu Boden, bevor ich erkennen konnte, was es war. Ich bückte mich nicht danach, denn die geheime Botschaft meiner Nachbarin, beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit, nicht zu übersehen ihre Tragweite und Tiefe:

Ein Herz war da gezeichnet, klar und bleistiftgrau der Umriss, leicht schraffiert die Fläche, um Volumen anzudeuten. Ein schwarzer Pfeil mit einem fedrigen Ende und einer grausigen Spitze, sauerkirschrot verschmiert, durchbohrte es, und drei sauerkirschrote dicke Blutstropfen, scharf umrandet und hell-dunkel schraffiert, hingen  noch in der Luft, würden gleich auf dem Boden aufschlagen und zerplatzen. Und um auch keinen Zweifel darüber zu lassen, wessen Herz da durchbohrt war, hatte sie einen Mädchenkopf mit Zöpfen, Affenschaukeln rechts und links, darüber gezeichnet, schön geschwungene rote Lippen und große Augen, aus denen blaßblaue Tränen kullerten.

 

Minutenlang blickte ich auf diese Zeichnung. Als ich schließlich aufstand, um die Toilette zu verlassen, knirschte etwas unter meinem Schuh. Ich hob es auf. Es waren nur noch Bruchstücke, unverkennbar aber die brutal zertretenen Teile einer bunten Plastikspange, wie Mädchen sie an den Enden ihrer Zöpfe trugen.

Als ich die Toilette verließ, sah mich mein Freund Peter und fragte besorgt: „Geht es Dir nicht gut? Du bist ja kreideweiß im Gesicht.!“ Ich schluckte und schaute an ihm vorbei.

 

Der erste Kuss

 

Eigentlich war es eine Wahnsinnsidee, die ich dennoch in die Tat umsetzte, als ich am Freitagabend vor Pfingsten das rostige und klappernde Damenfahrrad meiner Mutter bestieg und aufbrach. Es war ein heißer Nachmittag gewesen, an dem ich meine Satteltaschen gepackt und die mehrfach geflickten Reifen aufgepumpt hatte. Belegte Brote und Wasser, Wäsche zum Wechseln, Kleingeräte und Flickzeug, was man so braucht für alle Fälle. Und zwei 10 D-Mark-Scheine im Portemonnaie. Und eine zerfledderte Straßenkarte: Faßberg, Munster, auf die B 71, Soltau, Rothenburg und dann nach Bremen, grob geschätzte 95 Kilometer,  immer am rechten Straßenrand, Fahrradwege gab es noch nicht. In Bremen ungeduldig und kurz entschlossen zum Hauptbahnhof, Fahrrad zur Gepäckaufbewahrung, mit dem Zug nach Oldenburg im Land Oldenburg, etwa eine Stunde Zugfahrt, dort zu Fuß nach Stadtplan in die Wald-Straße, wo ihre Familie seit Ostern wohnte:

Ingrid, Sandkastenfreundin, Grundschulkameradin, Weggefährtin auf den täglichen Fahrradfahrten zur Schule nach Hermannsburg, 13 Kilometer durch den Wald, sie zur Mittelschule ich zum Gymnasium. Wir hatten uns in den zurückliegenden zehn Jahren fast täglich gesehen, lange Spaziergänge am Abend, Kinobesuche, Gespräch in ihrem Elternhaus über Gott und die Welt. Wir waren 16 damals, beide scheu, wohlerzogen und verklemmt.

 

Es war am späten Vormittag, als ich endlich vor ihrem Haus stand, unangemeldet. Ihre Mutter öffnete: „Nanu, wie kommt denn das, was für eine Überraschung. Ingrid, komm doch mal her.“ Und Ingrid kam die Treppe herunter, strahlte mich an und reichte mir die Hand. Ich erzählte, während mir ein fürstliches Frühstück zubereitet wurde. Und dann richtete man mir das Bett im Zimmer ihrer älteren Schwester her, die über Pfingsten verreist war und ließ mich erst mal schlafen. Gespräche am Abend, Spaziergang durchs Wohnviertel, am Sonntag die Sehenswürdigkeiten Oldenburgs, immer noch müde.

Am Montag endlich mit ihr allein. Wir streiften durch die Wiesen, saftiges Gras, zufriedenes Muhen der Kühe. Die kleinen Kälber kamen neugierig an den Zaun. Ingrid steckte ihren Zeigefinger durch den Draht. Ein Kälbchen kam, um daran zu nuckeln. Sie zog die Hand erschrocken weg. Ich wollte mutig sein, steckte meinen Zeigefinger durch den Zaun, spürte die weiche Schnauze, das weiche Maul. Ein wohliger Schauer. Eine Erregung, die ich aus ganz anderen Situationen kannte. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Und die Kälbchen kamen alle heran eines nach dem anderen und probierten und zogen sich dann enttäuscht zurück.

„Kannst Du auch noch was anderes?“, fragte sie leise und trat dicht an  mich heran. Da kapierte ich es endlich, dass sie etwas von mir wollte, etwas Sinnliches, Körperliches, Weiches, und da haben wir uns geküsst, das erste Mal, und auch nur einmal. Ihre Lippen waren kalt und glitschig und schmeckten

nach Himbeeren, denn sie hatte sie sich rot angemalt. Und ich empfand plötzlich eine ungeheure Verantwortung. Als wäre ich nun mit ihr verlobt, als würden wir bald heiraten und ich müsste Geld verdienen, denn sie würde ein Kind bekommen. Von dem Kuss? Vielleicht, ich hielt es damals tatsächlich für möglich, dass so ein Kind entsteht.

Meine pubertären Samenergüsse hatten in meinem unaufgeklärten verklemmten Bewußtsein den schalen Beigeschmack von etwas Verbotenem, etwas Schmutzigem. Ein Kuss aber auf Mädchenlippen, das war etwas Heiliges, dadurch wurde man erwachsen.

Nach jenem Kuss gingen wir Hand in Hand durch die Landschaft, sie hielt mir ihre Hand hin oder griff nach meiner, ich fand es bald ganz selbstverständlich, dass ich ihre Hand nahm, wenn wir spazieren gingen. Und ab und zu blieben wir wortlos stehen und küssten uns. Und mein Gefühl, ihre Lippen seien kalt und glitschig, verschwand und auch der Verdacht, dass man vom Küssen schwanger wird, verflüchtigte sich.

Ich blieb einen Tag länger als die Pfingstferien mir erlaubten und brauchte einen weiteren Tag, um nach Hause zu fahren. Das Geld reichte gerade so, denn ihr Vater brachte mich nach Bremen.

Meiner Klassenlehrerin, dieser verehrungswürdigen kleinen grauen Frau, mit dem hellen freundlichen Gesicht und den lachenden Augen, sagte ich, ich hätte aus Gründen der „Poesie“ zwei Tage mehr gebraucht, als mir eigentlich zustanden und das sei für mich auch richtig und wichtig gewesen. Sie fragte nicht nach, verstand, wie ich es meinte sofort.

 

Meine Eltern erhielten eine Wochen später einen Blauen Brief von der Schule:

„…müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn Hans-Jürgen Gundlach, Schüler der Klasse 9 a des Christian-Gymnasiums Hermannsburg,  in der Zeit vom… bis … unentschuldigt dem Unterricht ferngeblieben ist. Sein Verhalten wird hiermit gerügt.“

Und das alles wegen ein paar Küssen. Und die hatten –anfangs ­– nicht einmal geschmeckt.

 

Das Mädchen aus Ostberlin

 

Sie hatte ein blasses Gesicht, dem nur die Sommerprossen etwas Farbe verliehen, gelblich blaßbraun. Ihre Ohrläppchen verzierten zwei silbrige kleine Sterne, auf ihrem Schoß hielt sie eine abgegriffene uralte Aktentasche fest, aus der Bücher und DIN A 4 Schreibhefte quollen, weil einer der beiden Verschlüsse nicht mehr zu funktionieren schien. Ihre Kleidung ließ jede Farbigkeit vermissen, derbe Schuhe, grauer Rock, gepunktete Bluse, hochgeknöpft bis unters Kinn, eine leichte Strickjacke, am Ärmel geflickt. Ihr schmutzig blondes Haar, und das fiel mir auf, wurde am Hinterkopf von einem silbernen Reif, einem Krönchen zusammengehalten. Und sie lächelte mich einladend an, als ich das S-Bahn-Abteil betrat und mich ihr gegenüber hinsetzen wollte. Ich war auf dem Weg von Bahnhof Zoo nach Bahnhof Wannsee, sie hatte wohl schon ein Stück ihrer Reise hinter sich.

Ich wusste sofort, dass sie „von drüben“ war, „von drüben“ , so nannten wir unsere „Brüder und Schwestern“, die das Kriegsende auf der falschen, der östlichen Seite Rest-Deutschlands erwischt hatte, in der „Zone“, wie wir im Westen die sowjetische Besatzungszone bezeichneten, die sich selbstbewusst „Deutsche Demokratische Republik“ nannte. Ich kam aus Westdeutschland, aus der „Bundesrepublik Deutschland“, aus dem anderen, dem „richtigen“ Staat, der sich zeitgleich mit der „DDR“ auf dem Boden der amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen gebildet hatte. Und ich besuchte, damals 17-jährig, meine Tante Grete, die in Kladow wohnte, einem Ortsteil im Westen Berlins, dieser zweigeteilten, ehemaligen Hauptstadt des deutschen Reiches, nun wie eine Insel mitten im Meer des kommunistischen Ostblocks gelegen.

 

„Ich brauche mich wohl nicht um Dich zu kümmern“, hatte Tante Grete beim Frühstück mit Schrippen gesagt. „Hier ist ein Stadtplan, nachts schläfst Du hier, tagsüber kannst Du machen, was Du willst, eine Woche lang. Viel Spaß, mein Junge!“

Eine ganze Woche in dieser Stadt! Frei wie ein Vogel! Siebzehn Jahre alt und es war Mai!

 

Damals existierte die Mauer noch nicht, die später den sowjetischen Stadtsektor Berlins einhegen und damit von drei westlichen Stadtsektoren abschirmen sollte. Damals konnte man mit der S-Bahn ungehindert, unkontrolliert die Sektorengrenzen überqueren, oder durchs Brandenburger Tor gehen, Ostberliner arbeiteten in Westberlin, Westberliner besuchten ihre vom Schicksal benachteiligten Verwandten im Ostteil der Stadt. Solche Besuche galten bei den Behörden „drüben“ aber schon in der mauerlosen Zeit gewissermaßen als „Feindberührungen“ und wurden sehr aufmerksam beobachtet.

Nun saß ich also dieser jungen Frau gegenüber, auf deren lächelndem Gesicht ein seltsam erwachsener Ernst lag, der Distanz signalisierte. Sie war älter als ich, vielleicht schon über zwanzig. An diesem späten Nachmittag war sie wahrscheinlich auf dem Weg nach Hause, oder in ihre Wohnung, ihr möbliertes Zimmer auf der anderen Seite dieser damals kaum markierten Grenze.

„Du kommst sicher aus Westdeutschland“, eröffnete sie das dünne Gespräch, das wir führten. „Du“, hatte sie gesagt. Ich war versucht, mit „Sie“ zu antworten, stockte dann aber und sagte mutig: „Ja, aus der Gegend um Wolfsburg, Gifhorn, wenn Ih…Dir das etwas sagt. Ich bin hier auf Besuch. Meine Tante wohnt in Kladow. Und S…Du?“ „Na, da bist Du ja bald zuhause, steigst Wannsee aus, das ist ja bald. Ich muss dann noch ein gutes Stück. Steige dort um. Und, was hast Du vor, hier in Berlin?“

Ich hatte schon drei Tage lang das ganze touristische Pflichtprogramm, Westberlin, Ostberlin und zurück absolviert, während dieser Zeit kaum mit jemandem geredet. Nun sprudelte ich heraus, wo ich schon überall gewesen war, was ich schon alles gesehen hatte, mit meinen kritischen Augen, die den desolaten Zustand im Osten überdeutlich wahrnahmen: vom Verfall bedrohte Gebäude, Museen und Plätze, einst prachtvolle Zeugnisse des preußisch-deutschen Kaiserreichs, die Trümmerlandschaft aus Straßen, auf denen vorsintflutliche, verbeulte Schrottautos langsam um Schlaglöcher kurvten. Im Westen dagegen endlose, in Neonlicht getauchte Straßen, die Kirchen, in die ich hineingeschaut, die Theater, deren Vorstellung ich schon gesehen oder noch sehen würde, die Trümmerlandschaft im Osten, die langsamen, alten reparaturbedürftigen Autos, ‘unsere‘ chromglänzenden Straßenkreuzer, ‘unser‘ modernes, buntes, schnelles Leben im Westen, angesagte Klamotten, angesagte Musik. Mit meiner naiven besserwisserischen Überheblichkeit und jugendlichen Unbekümmertheit setzte ich an, dieser Frau die Schwachstellen der sozialistischen Planwirtschaft und die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft zu erklären.

 

„Du gehst noch zur Schule!“, stoppte sie mich irgendwann. „Natürlich, da weißt Du schon alles“, stellte sie ohne jeden sarkastischen Unterton fest. „Ja, elfte Klasse. Und Du bist wahrscheinlich Studentin, Humboldt-Universität“, vermute ich. Sie nickte. Immerhin wusste ich damals schon, dass es diese altehrwürdige Universität in Ostberlin gab, war auf meinen Streifzügen daran vorbeigekommen. Ich wusste auch, dass das Westberliner Gegenstück dazu die sog. „Freie Universität Berlin“ war, ein Meilenstein im kalten Krieg der Systeme.

Ich weiß nicht viel mehr von unserem Gespräch, in dem ich das Drei- bis Fünffache von dem sagte, was ihr über die schmalen ungeschminkten Lippen kam, aus diesem Gesicht, in dem bald das Lächeln verschwunden war und das danach ein tiefer Ernst überschattete und eine Aufmerksamkeit, die mich verunsicherte; denn diese Aufmerksamkeit schien weniger dem, was ich erzählte, als dem, was dahinter zum Vorschein kam, zu gelten. Und das gab unserer Begegnung eine Bedeutung, die mich überraschte und berührte, mich irgendwie entwaffnete und enttarnte.

Der Zug lief in den Bahnhof ein, von wo aus ich mit einem Bus weiterfahren musste. Sie stand ebenfalls auf,als ich mich erhob und nach meiner Tasche griff, begleitete mich zum Ausstieg. Auf dem Bahnsteig hatte ich schon ein unverbindliches „Tschüss, mach’s gut“, auf den Lippen. Da legte sie ihre überquellende Tasche auf dem schmutzig grauen Beton des Bahnsteigs ab, zwischen ihren Füßen, griff mit ihrer rechten Hand nach meiner linken Schulter und ließ sie dort einen Augenblick liegen, so dass ich ihre Wärme spürte. Dann ließ sie langsam ihre Hand an meinem linken Arm herunter gleiten, sah mich ernst und ausdrucksvoll an und sagte: „Ich wünsche Dir einen guten Aufenthalt hier in Berlin. Und mach die Augen auf. Und guck genau hin. Und achte auf Dich!“ Und dann drehte sie sich um und ging mit kleinen schnellen Schritten davon.

 

Ich bin am nächsten und am übernächsten Tag wieder etwa um die gleiche Zeit von Bahnhof Zoo nach Wannsee gefahren, in der Hoffnung, dieser Frau ein zweites Mal zu begegnen und vielleicht noch einmal wohlig warm eingehüllt zu werden, in ihre mich tief berührende Sorge um mich. Natürlich ohne Erfolg. Doch habe ich tatsächlich genauer hingeschaut und sah in den Kindergesichtern in Ost und West die gleiche unbefangene Fröhlichkeit und in den Gesichtern der erwachsenen Ost- und der Westmenschen die gleiche gehetzte Griesgrämigkeit und freute mich über jedes freundliche einladende Gesicht, sei es im Osten oder im Westen.

 

Heute, fast sechzig Jahre nach dieser Begegnung, kommt es mir so vor, als hätte ich von diesem Mädchen aus Ostberlin die erste zärtliche Berührung erhalten, die mir von einer fremden Frau zuteil geworden ist, und die meine Begeisterung für chromblitzende Straßenkreuzer, grelle Lichtreklamen, heiße Musik, überquellende Warenhäuser zumindest für den Rest meiner Berliner Woche hinwegwischte.

 

Meiner 17-jährigen Enkeltochter habe ich diese Geschichte zugemailt und sie nach ein paar Tagen, als ich sie wieder traf, gefragt, ob sie meine Geschichte gelesen hätte. „Ach die“, sagte sie, „die wo Du ausflippst, bloß weil Dir da in Berlin eine Frau ihre Hand auf die Schulter gelegt hat. Ja, hab ich gelesen. War irgendwie langweilig. Passierte ja nichts.“

 

Also, meine Damen,

ich habe Sie gewarnt. Für den Fall, dass die eine oder andere von Ihnen in einem Anflug von Zärtlichkeit mir ihre rechte Hand auf meine linke Schulter legen möchte, um diese Hand dann langsam an meinem linken Arm runter streichen zu lassen, dann könnte es passieren, dass ich wie damals in Berlin total ausflippe, allerdings gab es damals diesen Ausdruck noch nicht. 

 

Muurahainen“

 

Das blonde Mädchen mit den Sommersprossen im Gesicht und dem fellüberzogenen Militärrucksack auf dem Rücken, hatte mich auf dem Bahnsteig in Lüneburg entdeckt, was nicht schwer war, da ich an einer langen Latte ein Plakat hochreckte, auf dem stand: „Gäste aus Finnland. Seid willkommen.“

Sie trat auf mich zu und sagte fast akzentfrei, so als wär’s ein gelernter Text: „Guten Tag. Gestatten Sie, mein Herr, ich heiße Eeva Kaarina Salonen. Wir hatten eine langeweilige Reise. Wir sind sehr froh dass wir endlich in Luneburg angekommen sind.“ Sie schaute mich an und fuhr fort: “Danke, dass Du uns abholst.“

 

Vom ersten deutschen Wort an, das auf dem Bahnhof in Lüneburg aus ihrem schmallippigen Munde kam, war ich in Eeva Kaarina verliebt. Ich wusste, sie kam aus Tampere in Finnland, wo sie an ihrer Schule Deutsch gelernt hatte. Ein Jahr vor ihrem Abitur wollte sie zusammen mit ihrer Freundin ihre Sprachkenntnisse in Deutschland verbessern. Deshalb hatten sich die beiden finnischen Mädchen zu diesem dreiwöchigen Lager der „Internationale Jugendgemeinschaftsdienste“ im Jagdschloss Göhrde angemeldet: Komplette Reisekostenerstattung, freie Unterkunft und Verpflegung, bei sechs Stunden gemeinnütziger Arbeit - da blieb genügend Freiraum für eigene Unternehmungen, Wanderungen, Besichtigungen, Kinobesuche, Vorträge, Lektüre, Diskutieren, Singen, Reden und Flirten.

Ich war Mitglied im dreiköpfigen Leitungsteam dieser Veranstaltung und sehr besorgt, alles richtig und gut zu machen. Ich sollte mich besonders um die ausländischen Jugendlichen kümmern, zwei Franzosen, eine Italienerin, zwei Engländer und diese beiden Finninnen, und sie mit den organisatorischen Bedingungen ihres Aufenthaltes vertraut machen.

 

Nicht jede Gelegenheit, konnte ich nutzen, umneben Eeva Kaarina zu gehen oder zu sitzen, denn das würde ja auffallen und würde Bevorzugung signalisieren. Immerhin gelang es mir bei einer Nachtwanderung in der ersten Lagerwoche, neben ihr zu sein, und als ich ihre Hand fasste, erwiderte sie den Druck und ich war glücklich. Von nun an war es ganz selbstverständlich, dass ich neben ihr ging oder neben ihr saß, wenn wir abends im Wald im Kreis unsere englischen, spanischen französischen und deutschen Lieder sangen, und dass ich ihre Hand hielt, wenn niemand guckte. Da inzwischen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre ständigen Begleiter gefunden hatten, wurde unsere Verbindung ebenso kommentarlos hingenommen, wie wir Teamworker die anderen sich entwickelnden Paarbeziehungen unter den insgesamt 20 Jugendlichen unkommentiert ließen. Wir waren damals vor fünfzig Jahren wohlerzogene, zurückhaltende, hinreichend gehemmte, ja verklemmte Teenager, weit entfernt von jeder Übergriffigkeit, und wir Teamer waren zuständig für die Organisation, nicht für die Moral.

 

Eeva Kaarina - ich redete sie stets mit ihrem vollen Vornamen an, nicht nur einfach Eva, weil mir der fremdländische Klang ihres Namens so gefiel. Scheu war sie, liebenswert scheu. Als ich eines Tages in der Mittagspause zu ihr ging, war sie gerade damit beschäftigt, in einer Schüssel mit milchigem Seifenwasser irgendein Wäschestück zu rubbeln. Sie hielt das weiße Etwas unter Wasser, damit ich nicht sehe, dass es sich dabei um ihren Büstenhalter handelte, den sie auswusch. Wahrscheinlich versteckte sie in der seifigen Brühe auch noch ihre Höschen. Ich traute mich nicht, ihr näher zu kommen, Hand halten, dachte ich, möchte ja noch gerade durchgehen, aber jeder darüber hinaus gehender Zärtlichkeit, meinte ich, müsse ich mich wohl enthalten, wegen der Moral und der Schicklichkeit und meiner Verantwortlichkeit. Während die anderen Pärchen engumschlungen von ihren Waldspaziergängen zurückkehrten, war ich über Händchenhalten noch nicht hinausgekommen, hatte mir lediglich vorgestellt, wie denn wohl ein finnischer Kuss schmecken würde und mit welchen Überraschungen ich da zu rechnen hätte. Ob sie sich umgekehrt vorstellte, wie ein deutscher Kuss schmeckt? Ich beschloss, mir nach jeder Mahlzeit die Zähne zu putzen und auf’s Rauchen zu verzichten, weil ich meinte, es könne nicht schaden, auf alles vorbereitet zu sein.

 

Statt es auszuprobieren, erzählte ich von der Gärtnerei, die unsere Familie nach dem Krieg gemeinsam aufbaute, harte Arbeit, und sie berichtete mir von ihrer Familie, ihrem großen Bruder und ihrer kleinen Schwester, von dem See und ihrem Ferienhaus auf einer kleinen Insel im Norden Finnlands, die ihrem Vater gehörte, und von ihrem Vater und dem rauen Geschäft des Holzhandels. Sie zeigte mir ihren Rucksack. Ihn hatte ihr Vater getragen, als er in den Krieg zog, in den finnisch-russischen Krieg. Er sah genauso aus wie der Rucksack, den mein Großvater aus dem ersten Weltkrieg mitgebracht hatte. Der nannte ihn seinen „Affen“, wohl weil die Außenseite mit einem braunen Fell überzogen war. „Schau“, sagte sie, „siehst du diesen dunklen Fleck? Er geht nicht weg. Mein Vater sagt: ‚Der Rucksack hat Russenblut getrunken‘.“ 

Und dann erzählte ich von meinem Vater, seiner Schussverletzung in Russland, die ihm einen Lazarettaufenthalt und danach die ihn rettende Versetzung an eine andere Front einbrachte. Und sie erzählte mir von ihrem Vater. Sein Freund und Kamerad sei in seinen Armen verblutet. Es sei in diesem Krieg nicht ungewöhnlich gewesen, dass sich ein einzelner finnischer Soldat aufmachte, um den Tod seines Kameraden zu rächen, sich in der Winternacht an irgendeinen russischen Vorposten anschlich, den wachhabenden Soldaten überwältigte und ihm die Kehle durchschnitt.

Ich sah, wie sie weinte, als sie mir das erzählt hatte. Als ich sie fragte, warum sie weinte, sagte sie, „ich will nicht, dass mein Vater ein Mörder ist.“

Ich erinnerte mich an das Wenige, was mein Vater vom Krieg erzählt hatte, sah ihn an einen glutheißen Tag in Oberitalien hinter einem Transformatorturm Deckung suchen, während ein englischer Flugzeugpilot Jagd auf ihn machte, ihn um diesen Turm hetzte und beschoss, immer wieder Angriffe auf ihn, einen einzelnen deutschen Soldaten, flog und erst abdrehte, als mein Vater erschöpft zusammengebrochen am Boden lag und der englische Pilot wohl annahm, er hätte ihn getroffen - da sah sie auch meine Tränen. Krieg. Das Thema war noch heiß in den ersten Nachkriegsjahren. Liebevoll sorgende Väter, weltweit, zu Mördern und Mordopfern gemacht, zu Jägern und Gejagten, verstümmelt an Leib und Seele.

 

Sie wollte nach dem Abitur Lehrerin für kleine Kinder werden, und für mich, der ich nur zwei Jahre älter war als sie, begann nach den Sommerferien mein Volksschullehrer Studium. Und dieses Jugendlager zu betreuen war Teil meines Sozialpraktikums, dessen Ableistung die Hochschule forderte.

 

Sie fragte, ob ich eine Freundin hätte, und ich erzählte ihr von meiner langjährigen Schulfreundin Ingrid und fragte sie: „Sicher hast Du doch einen Freund in Finnland?“. „Ja“, antwortete sie zögernd, „aber…“,ich sah sie erwartungsvoll an, sie stockte, und dann sagte sie: „Du bist söner.“

 

Als das Ende unseres dreiwöchigen Lagerlebens nahe rückte, am Vortag der Abreise, rollte ich nach dem Mittagessen eine Decke zusammen und klemmte sie mir unter den Arm. Dann holte ich Eeva Kaarina vom Mädchenquartier ab, wo sie beim Packen war. Wir gingen zu unserem Lieblingsplatz im Wald, wo unter einem Buchen-Blätter-Schirm in einer Senke saftiges Gras stand. Bislang hatten wir immer nur sittsam händchenhaltend nebeneinander auf dem Stamm eines umgefallenen Baumes gesessen, eng umschlungen allenfalls und einander von unseren Familien, von der Schule und von unserem Alltagsleben erzählt. Nun aber war da eine Decke, auf der man sich ausstrecken konnte. Sie folgte zögernd meinen Beispiel und meiner einladenden Geste. Dann - endlich - habenwir uns geküsst und uns gestreichelt, sanft wie um Erlaubnis bittend, und immer wieder geküsst, atemlos, unsere Körper umschlungen, uns aneinander gedrückt, der eine den Duft des anderen eingeatmet, einer des anderen Körperschwere gespürt, uns sprachlos berührt, stumm einander angeschaut, das Wunder unserer Gefühle bestaunt.

 

Und dann schrie sie plötzlich auf und zeigte auf eine Karawane großer roter Waldameisen, die im Begriffe standen, die Hürde ihrer Waden zu nehmen, um von dort aus zu meinen Waden vorzudringen. Und da war auch schon die Vorhut: Ich spürte das vorsichtige Tasten von Insektenbeinen auf meiner Haut. Sie schrie „Muurahainen“ und noch einmal „Muurahainen“ und dann hatte ich es kapiert. „Muurahainen“ so nennen die Finnen unsere Ameisen.

 

Bevor wir die Decke wieder zusammenrollten und uns auf den Heimweg machten, versprach ich ihr hoch und heilig, ich würde sofort anfangen Finnisch zu lernen und würde sie im nächsten Jahr in Finnland besuchen.

Am nächsten Tag in Lüneburg auf dem Bahnhof umarmten und küssten wir uns vor aller Augen und dann fuhr der Zug ab. Ein paar Tage später erhielt ich von meiner Kollegin im Leitungsteam, die mit demselben Zug nach Hamburg gefahren war, eine Karte, auf der sie mir mitteilte, dass Eeva im Zug bitterlich geweint hätte.

 

Ich habe nicht Finnisch gelernt, stattdessen Briefe in Deutsch nach Tampere geschickt und nach einem Jahr sandte sie mir ein Portrait, auf dem sie eine weiße Mütze trug, wie alle finnischen Gymnasialabsolventen sie am Tage ihrer Schulentlassung tragen, und beigefügt hatte sie eine eng in Finnisch beschriebene Briefkarte, die ich natürlich nicht lesen konnte. Und dieser Brief war das letzte Lebenszeichen von ihr; denn auf meine zwei, drei Briefe, die ich danach noch schrieb, erhielt ich nie eine Antwort.

 

Jahre später, ich war bereits verheiratet und meine beiden Töchter waren schon geboren, lernte ich eine Finnin kennen. Sie war die Ehefrau eines Deutschen und arbeitete als Schulsekretärin an einer Schule im Nachbarort. Ich erzählte ihr von Eeva Kaarina und von dem Bild und von der Karte, dessen Inhalt ich immer noch nicht gelesen hatte. Sie sagte, sie würde übersetzen. Ich gab ihr die Karte und fragte am nächsten Tag nach. Sie schaute mich an, lächelte leicht. Doch dann sagte sie mit ernstem Gesicht: „Ich übersetze Dir das nicht. Hier nimm die Karte. Sie hat Dich sehr geliebt, aber ich kann Dir das nicht übersetzen und Du solltest auch keinen anderen darum bitten.“

 

Und das habe ich auch nicht getan bis auf den heutigen Tag. Und bis auf den heutigen Tag erinnere ich mich an die einzige finnische Vokabel, die ich von ihr gelernt habe: „Muurahainen“.

 

Hair

 

Ob gelockt, gewellt, gefönt,

ob grün gefärbt, rotblond getönt,

gestuft, an- oder  abgeschnitten,

Scheitel rechts, links oder  in der Mitten,

ob aufgedreht, gestylt, gelackt,

ob abrasiert, ob völlig nackt -

ob's euch  nun passt ...das  ist  Mein Zopf

es ist  das  Haar auf Meinem Kopf.

Was  wirklich  zählt, ist  hier  der Inhalt.

Die Haare drauf sind ja doch  hin bald.

 

So, please, don't fuss about my hair.

I do enjoy it being there.

It won't be long

that it's all gone.

Then, for my own identity,

I need my mind's serenity.

And may this teach you all one thing:

In your own kingdom be the king.

There's wealth in hair and fantasy

 in this life's drab reality.

 

Wie sie ist

 

Sie ist so  klug und kuschelig,

so weise und so wuschelig,

sie ist so intellektuell

und noch dazu  gedankenschnell.

Sie isst und ist mit Weile

kein bisschen sehr in Eile,

und ihr Gefühl ist riesengroß,

sie selbst eins achtundfünfzig bloß.

 

Sie ist so weich und wärmespendend,

so Kummer in Behagen wendend,

sie ist so Trauer nachempfindend

und zärtliche Gefühle bindend.

Sie denkt so tief und gründlich nach

und doch lag etwas in ihr brach,

wofür es niemals ist zu spät:

Sie ist voll Erogenität.

 

Sie trägt den Schmerz der ganzen Welt,

den manchmal gar kein Licht erhellt.

Sie wütet gegen Unvernunft

und, dass in Unmoral versumpft

sind, die sich selbst als Vorbild preisen

und unverschämt die Welt bescheißen.

Sie steht zu ihrem Recht auf Wut...

Schadet sie nicht? Tut sie ihr gut?

  

Ich mag gern ihre Meinung hören

zu allen Dingen, die sie stören,

versuche oft mit einem Lächeln,

Widerspruch ihr zuzufächeln.

Mit Leidenschaft bekämpft sie den,

sie lässt sich nicht besänftigen,

und sie besteht auf Streitaustragung

entgegen uns’rer Zeitverplanung.

 

Ich will sie lieben, wie sie ist,

ich lieb´ sie ohne arge List,

nicht nur auf Gegenseitigkeit –

 ist sie bereit, bin ich bereit.

Ich hätte sie auch aus der Ferne

und ohne Hautkontakte gerne,

doch mag  ich ihre Nähe,

dass ich sie rieche, fühle, sehe.  

Nocturne

Liebesworte hörte ich

durch  die  Terrassentür,

dass man sie hörte,  störte nicht.

Ihr  Perlenklang  betörte   mich:

Du spieltest sie auf dem Klavier.

Rose

 

Liebe, sagst du, sei ein Fluss,

der das zarte Schilf ertränkt,

Liebe sagst du, sei die Klinge,

die die Seele blutend trennt.

Liebe sagst du, sei ein Hunger

endlos schmerzendes Verlangen.

Ich sag: Liebe ist die Blume,

hat als Same anzufangen.

 

Herz, das Angst hat zu zerbrechen,

wird das Tanzen nie kapieren,

Traum, der fürchtet aufzuwachen,

wird das Wachsein nie riskieren.

Der Mensch wird nicht gern genommen,

der nicht fähig scheint zu geben,

Seelen, die das Sterben fürchten,

lernen nie zu leben.

 

Wenn die Nacht zu einsam war,

und mein Weg schlug viele Haken,

denk ich, Liebe sei nur da

für den Glückspilz und den Starken.

Doch im Frost der Winterzeit

unterm bitterkalten Schnee

liegt der Same schon bereit,

den ich dann als Rose seh´.

  

Klatschmohn

 

Ich   hatte in das  kleine Beet

vor meiner  Haustür  Mohn gesät.

Die Blütenpracht war schnell verblüht,

wie das  in  jedem Jahr geschieht.

Nun seh´ ich  Samenkapseln reifen.

 

 Für neues Glück  im neuen Spiel?

 Die Samen  darin sind so viel,

ich  könnte tausend Beete sä´n.

wo  dann Millionen Blüten  steh´n. –

Ein Wunder, gar  nicht  zu begreifen!

 

Das  ist  der  gold´ne Überfluss

des großen  Schöpfers Liebeskuss,

damit von all den guten  Gaben

wir die versproch´ne Fülle haben

und nicht an seiner  Großmut zweifeln.

 

Stachelblumen-Blüte

  

Ich sollte eine Blüte seh´n,

die selten ist und sehr exotisch.

Die Pracht, sie  würde schnell vergeh´n,

ich glaubte, sehr gut zu versteh´n –

Meint sie es gar erotisch?

 

Ich hab´ mich auf den Weg gemacht,

zu ihrem Haus, so ganz spontan,

der Knabe in mir  hat gelacht,

der Mann ist wieder aufgewacht.

Sie hat mir aufgetan.

 

Ich sah und  spürte die Erregung,

ein leichtes Zittern und ein Schwanken,

doch statt spontaner Offenlegung,

versuchten wir es mit Bewegung,

uns an Gewohntem fest zu ranken.

 

Wild ist ihr Garten, ungepflegt,

wir lassen es halt sprießen,

wie´s wachsen will und wie´s sich regt.

Das Grundstück wird nicht eingehegt,

um Leben  zu genießen.

 Begreifen mit den Händen

 

Da brummen sie geschwind dahin

auf heißer Spur zu einem Ziel.

Ob sie im Ernst begierig sind,

begierig so wie Kinder sind?

Die haben ihren eig’nen Stil.

 

An gar nichts laufen sie vorbei.

Sie schauen links, rechts, gradeaus,

verweilen, denn sie sind so frei.

Das Allerlei wird täglich  neu.

Sie wählen sich das Ihre aus.

 

Ich habe das total verlernt,

mich Dingen so tief zuzuwenden.

Ich habe meine Welt entkernt,

und habe mich aus ihr entfernt,

begreife nichts mehr mit den Händen.

 

Wie wär es, wieder Kind zu sein,

die Welt mit Kinderaugen sehn,

nicht groß sein, ohnehin nur Schein.

Den Baum, die Blume und den Stein

berühren, ohne zu verstehn.

 

Da sitze ich nun unter Leuten

in dem Café zur Frühstückszeit.

Und draußen flitzen Automeuten,

mit Menschen drin, die Zeit erbeuten.

Ich bin von diesem Zwang befreit.

   

Zurückgeblieben

 

Nun stehst du dort

und ich  hier  drüben,

am fremden Ort

zurückgeblieben.

 

Und meilenbreit unüberwindbar

ein Strom, und wir durch  ihn getrennt.

Und Brücken  scheinen  unauffindbar,

und niemand, der  den  Fährmann kennt.

 

Und du stehst  dort

und ich  hier  drüben,

am fremden Ort

zurückgeblieben.

 

Und der  ein Boot hat, das uns trägt,

zu einem Ziel, das  wir erahnen,

damit sich  in uns  was  bewegt,

nicht nur im Winde unsre Fahnen.

 

Und du stehst  dort

und ich  hier  drüben,

am fremden Ort

zurückgeblieben.

 

Auf dass wir beide Hand in Hand

uns aus der  Zeit  befreien,

einander nicht mehr unbekannt

uns aneinander  freuen.

  

Und du stehst  dort

und ich  hier  drüben,

am fremden Ort

zurückgeblieben.

   

Und wir gehn fort

von hier  nach drüben,

zu jenem Ort,

um uns zu lieben.