Familiäres 3 (Lyrik)

Celle, Runde Straße Nummer neun

 

Ich war noch Kind, und es war Krieg.

Die Oma wohnte in der Stadt.

Der Vater kämpfte für den Sieg,

Die Mutter sang: „Maikäfer flieg...“,

und kriegte kaum uns Kinder satt.

 

Einmal im Monat fuhren wir.

Die Dampflok stampfte, fauchte, pfiff

auf roten Rädern, großes Tier,

das sich den Weg frisst, schien es mir,

und schlingerte im Sturm. – Ein Schiff.

 

Die Masten, die den Zug umstellten,

sie flogen mit den Bäumen.

Doch Räder kreischten, Pfiffe gellten.

Rotmützen, die Kommandos bellten.

Sie rissen mich aus meinen Träumen.

 

Ich hörte Menschen schrei´n und fluchen.

Der Zug hielt an, ein langer Halt.

Die Oma wollten wir besuchen.

Ich freute mich auf ihren Kuchen,

und alles andre ließ mich kalt.

  

Es war nur eine kleine Reise

nach Celle, nur zwei Stunden.

Welche Fracht, auf welche Weise

fuhr auf eben diesem Gleise?

Antwort hab ich nicht gefunden.

 

Denn jener Halt auf halber Strecke -

man hat es  später  mir erklärt.

Man hielt die Wahrheit im Verstecke,

damit ein Kind sich nicht erschrecke

und nichts davon erfährt,

 

dass hier am Kleinbahn-Kreuzungspunkte

ein „Viehtransport“ die Vorfahrt hat.

Ich sah nur hastig durchgewunk’ne

fensterlos rotbraun getunkte

Waggons. Was fand hier statt? –

 

Am Ziel! Von dort durch einen

Park, vorbei an grünen Pyramiden.

Das Schloss, das sich im Wald verbarg.

Der Eisenzaun. Wer war so stark,

ihn mehrfach zu verbiegen?

 

Das Kopfsteinpflaster, der Hydrant.

Und dann der Brunnen an der Ecke.

Ein Baum, der gegenüberstand,

die Eibe. Und den Straßenrand

markierte eine Buchsbaumhecke.

 

Dann der Geruch im Treppenhaus.

Die Stufe knarrten. Eine Tür

auf halber Höhe, sah so aus,

als führe sie zum Hof hinaus.

WC stand dran. Und das war hier?

 

Die alte Frau im schwarzen Kleid:

„Da seid ihr ja. Wie ist das schön!“

Elf Kinder, Witwe, Freud und Leid.

„Tisch ist gedeckt, für euch bereit.

Hab` euch so lange nicht gesehn!“

 

Von hier hab ich die Stadt erkundet,

gelernt, das Wagnis nicht zu scheu´n.

Geschmeckt hab ich, wie Fremdes mundet,

in weiten Bögen kühn umrundet,

die Runde-Straße Nummer neun.

 

Konfirmation

 

Vierzehn war ich, als „der Lange“,

in dem ganzen Dorf bekannt.

Anzug? Der war von der Stange.

Abendmahl? Da war mir bange:

Ich war nämlich Konfirmand.

 

Samstag Abend, und es führt mich

meine Tante Ruth zum Beichten.

Sie hält ernst und stille bei sich

meine Hand, und so was fürcht´ ich;

denn mein Sinn steht nach dem Leichten.

 

Zehn Schritt vor der Kirchentür

löst sie sich von meiner Hand.

Sie legt ihren Arm dafür

um die rechte Schulter mir

wie ein schweres starkes Band.

 

Sagt, als wär´ das ihre Pflicht:

„Geh mit Gott!“ und lässt mich los.

Ich schau voll in ihr Gesicht,

Tränen seh´ ich wie ein Licht.

Denk´: „Was hat sie bloß?“

 

„Geh mit Gott!“ – nach fünfzig Jahren

fühle ich mich angerührt.

Jahre, die nicht ohne waren!

Mir ist Gutes widerfahren;

denn ich hab´s mit IHM probiert.

 

Letzte Lesung im Kavalierhaus

Literarische Floßfahrt auf der  Ise

Der Gärtner

 

Als ich ihn endlich kennen lernte,

da war ich sechs, der Krieg vorbei.

Er kehrte heim, und er entfernte

sich bald zur Gärtnerei.

 

Die Bank ließ ihn sich selbst verpfänden,

sie war sich des Erfolgs gewiss.

Kein Risiko bei diesen Händen,

er hatte Kraft und Biss.

 

Ich sah ihn alte Kiefern roden

- ein Viertelhektar Heideland -

auf diesem Sand- und Steine-Boden,

auf dem sein Traum entstand.

 

Mit Muskeln, Mist und Glück

hat er den Sand zu Land gemacht,

mit Existenzangst im Genick

sein Menschenwerk vollbracht.

 

Ich seh´ die bunten Blumenbeete,

der Stauden üppige Blütenpracht

und wie er jätete und säte.

Hat alles selbst gemacht.

 

Kohlrabipflanzen, Kopfsalat,

Tomaten, die noch richtig schmeckten,

das Erdbeerfeld, die frische Saat,

die wir in tausend Löcher steckten.

 

Einmal hat er mich reiten lassen

auf seinem nassgeschwitzten Rücken.I

ch durfte seinen Hals umfassen

und seine Muskeln zwicken.

 

Den Tritt, den ich ihm da verpasste,

er hat ihn nicht einmal gespürt,

die harte Hand, die nach mir fasste,

sie hat mich so berührt.

 

In seinen letzten Lebensjahren,

dabei, sie zu früh zu verlieren,

sah ich mit zärtlichem Gebaren

ihn Blumen arrangieren.

 

„Der Schuss, der mich in Russland traf,

er rettete zum Glück mein Leben.“

Ich frage mich: “War er so brav,

es freudig hinzugeben?“

 

Hab´ manchmal ihn im Traum geseh´n,

gebückt, und auch auf allen Vieren.

Wenn er mich ansah, war es schön –

er und sein „Kultivieren“.

 

Meine Mutter ist gestorben...

 

Meine Mutter ist gestorben,

schlief durchaus nicht friedlich ein,

hörte auf, sich noch zu sorgen,

es war früh am Mittwochmorgen,

sie war alt und grau und klein.

 

Nach den vielen, vielen Wochen

hatte ich ein letztes Mal

sonntags noch mit ihr gesprochen,

nichts vom nahen Tod gerochen,

nichts gespürt von seiner Qual.

 

Und ich hörte ihre Worte:

„Ich bin stolz auf meine Beiden!“

Dieses wird von diesem Orte

und ihr Winken an der Pforte

in Erinnerung bleiben.

 

Denn wir Zwei aus ihrem Schoß

tags zuvor an ihrem Bette

hielten ihre Hände bloß.

Sie griff zu und ließ doch los,

löste selbst uns von der Kette.

 

Ist gestorben, gibt uns frei,

überlässt uns unsern Wegen,

was das Unsre denn auch sei.

Sie ist nun nicht mehr dabei.

Gibt sie dazu ihren Segen?

 

Ihr gedankt und ihr verziehen

sei, was sie an uns getan.

Wir sind recht und schlecht gediehen.

Unser Leben ist geliehen

und nicht frei von eignem Wahn.

 

Großer Bruder

 

Er hat so ziemlich ungefragt

des Vaters Arbeit fortgesetzt,

hätt´ er deswegen sich beklagt,

hätt´ ihn sein Widerwort verletzt.

 

Hat seine Pflichten übernommen

und wurde so zum Chef der Sippe,

nach seinem Tod sich freigeschwommen –

in die Familien-Mitte.

 

Er trägt in sich die alten Wunden

aus längst vergang´nen Kindertagen,

schuftend mit dem Kopf nach unten,

das Aufbegehren wagend,

 

um es der Welt zu zeigen,

was man alleine kann,

auch seinem Bruder, seinem kleinen:

Wer ist denn hier der Self-made-Mann?

 

Er hatte keine echte Wahl,

als jenes Erbe zu erhalten,

begann mit Freude und mit Qual,

sein eignes Wesen zu entfalten.

  

Er hatte seine dunklen Stunden,

hat sich allein zurechtgebogen,

aus eigner Kraft zurückgefunden,

sich selber aus dem Sumpf gezogen.

 

Und hat mit seinen beiden Pfoten

sein Leben tapfer selbst gemeistert,

so manchen Schwätzer überboten

und mich begeistert.

 

Und dennoch hätt´ ich gern gewusst,

ob er je einer Menschenseele

von seinen Zweifeln, seiner Lust

Mitteilung macht in freier Rede.

 

Ich war für ihn der Kleinere

und spürte seine Übermacht,

War ich für ihn der „Feinere“?

Was hat er über mich gedacht?

 

Hat er die Konkurrenz gespürt

um uns´rer Mutter Liebe?

Hat insgeheim er Krieg geführt

für ihm erteilte Hiebe?

 

Wir haben unsern Weg gemacht,

und jeder schleppte seinen Stein.

Trug ich vielleicht die leichte Fracht?

Er wird stets „großer Bruder“ sein.

 

Mein Onkel Max

 

Sein Haus - es machte nicht viel her:

die Oma wohnte kostenfrei

ganz oben, und darunter er.

Für sie zu sorgen fiel ihm schwer.

Im Erdgeschoß die Schneiderei.

 

Max Gilster, Herrenschneider, las ich,

als ich ihn endlich mal besuchte.

Ein Sohn, der seinem Vater glich,

doch nun allein und wie für sich

so manchen reichen Herrn betuchte

 

mit edlem Zwirn und Eleganz,

im alten Stil, von Hand gefertigt,

gedieg`ne Arbeit, ohne Glanz.

Zu schlicht für jenen eitlen Tanz

der Wunderjahre, überwertig.

 

Primaner war ich, darauf stolz.

Er hatte Schule kaum genossen,

war überhaupt aus andrem Holz.

„Ach Schule!“, sagte er. “Was soll’s.

Auch anderswo wird Geist vergossen.“

  

Für eine Woche war ich Gast.

Ich kam vom Dorf und endlich raus,

ein junger Mann, der noch nicht passt,

voll Wissensdurst und Gier und Hast.

Er kannte sich auch damit aus.

 

Und ruhig hat er mir erzählt

von seinen Lehr- und Wanderjahren,

in nackten Worten, ungewählt,

und hat mir dabei nichts verhehlt,

von all dem, was ihm widerfahren:

 

Worüber man woanders lachte,

woran man litt, womit sich quälte,

was man vom deutschen Nachbarn dachte,

als jener böse Geist erwachte,

Max sich die falschen Freunde wählte.

 

„Sieg Heil!“ gebrüllt für´s Nationale,

die großen Worte, so entbehrlich,

mit heißem Herzen für´s Soziale

gekämpft, gezweifelt viele Male.

Doch Meinung sagen war gefährlich.

 

„Für Führer, Volk und Vaterland“,

„gefallen auf dem Feld der Ehre“ –

nur Lügen, ausgestreut wie Sand.

„Die Hybris hab ich spät erkannt,

ich ging noch einmal in die Lehre!“

 

Und ich mit ihm. Er ließ mich sehn

die Wahrheit hinterm großen Worte,

ließ mich in Lazarette gehn,

das Schreien hören und das Flehn,

in Lager und an andre Orte.

 

Seh Männer, Kinder, Frauen

gefesselt an der Grube stehn,

Soldaten, die sich danach trauen,

aufs Massengrab hinabzuschauen,

seh schwarz-weiß-rote Fahnen wehn.

 

„Mein Bruder – kurz vor Schluß gefallen,

mein Freund, der mir das Leben schenkte, –

ich seh ihn seine Fäuste ballen

und hör` ihn letzte Worte lallen,

bevor ein Kriegsgericht ihn hängte.

 

Doch die Verbrecher dieser Zeit?

Ach, all die Führer und Juristen,

in ihrer Angst und Eitelkeit

mitschuldig an dem großen Leid,

tun so, als wenn sie nichts mehr wüssten.

 

Und ich blieb völlig unversehrt,

sechs Jahre lang, ich kam davon.

Das Leid des Kriegs - mir blieb‘s verwehrt. –

Vielleicht hab ich dich was gelehrt,

dich, meiner Lieblingsschwester Sohn.“

 

Er sprach von Glück, von Irrtum, Schmach,

vom Krieg und der Verblendung,

die über ihm zusammenbrach,

von Scham und Schande und danach

von klarer Sicht und Wendung.

 

Und ich mit meinen achtzehn Jahren

sog all die Schrecken in mich auf.

Er konnte sie mir offenbaren,

als wären mir sie widerfahren,

nahm meinen Schmerz in Kauf.

 

Er saß da, so wie Schneider sitzen,

in ihrer Werkstatt auf den Tischen.

Ich sah die flinke Nadel flitzen

und Tränen in den Augen blitzen

und hörte Bügeleisen zischen.

 

Noch heute seh ich sein Gesicht,

mit Ernst mir offen zugewandt.

Ich denke an sein inn´res Licht

an seine Worte, ihr Gewicht

und weiß: Das hat Bestand. 

 

Sam

 

Schwarzer Mann aus Afrika,

du bist mein Schwiegersohn

und mir auch wie ein Freund so nah,

und einst in unser  Land gefloh´n.

 

Die junge Frau, die beiden Kinder -

doch dein Asyl bleibt illegal

und du ein Migrationsgrund - Schwindler,

Dein Lebensglück nur zweite Wahl.

 

Zwar hast du Arbeit, ein Zuhaus,

für deine Leute fällt was ab.

Man beutet dich hier ziemlich aus,

legale Arbeit, die ist knapp.

 

Man macht mit dir kein Federlesen.

Man sperrt dich ein nach Fug und Recht.

Das Paradies war´s mal gewesen,

denn plötzlich geht es dir hier schlecht.

 

Die kleinen längst verjährten Sünden,

sie werden gegen dich verwandt,

denn der Justitia, der blinden,

sind sie als Straftaten bekannt.

 

Der Rechtsstaat rechnet kurz und knapp.

Du trägst die falsche Farbe im Gesicht.

Man will dich nicht, man schiebt dich ab.

Und dein Familienglück zerbricht.

 

Ich seh´ dein schwarzes Angesicht,

dein Lachen hatte es erhellt,

der Glanz in deinen Augen bricht

mit all dem, was zusammenfällt.

  

Lesung vor der Fernseh-Kamera