Familiäres 2 (Prosa)

Frau Schrickel

 

„Frau Schrickel nicht! Kommt nicht in Frage!“ Da sei doch noch die Frau ... also, die Weiße, und die sei viel fetter und hätte schon lange nicht mehr gelegt. Als jemand aus der familiären vorweihnachtlichen Tischrunde mit einem „Ja, aber...“ zu diskutieren versuchte, stand meine Großmutter entschlossen vom Mittagstisch auf und verschwand in der Küche.

Über das Festtagsmenü zu Weihnachten wurde an den wenigen Tagen, die nach diesem Vorfall noch blieben nicht mehr gesprochen. Am ersten Weihnachtsfeiertag gab es Thüringer Klöße und Rouladen und am zweiten Weihnachtsfeiertag Kartoffelbrei mit der übriggebliebenen Bratensoße und einer überzähligen Rouladen, die statt für sechs Personen nur noch für uns zwei Kinder und meine Eltern reichen musste. Meine Großmutter hatte auf ihren Anteil verzichtet und mein Großvater sich ihr solidarisch angeschlossen.

Und am Neujahrstag kam mein Lieblingskaninchen Butzemann auf den Tisch.

 

Die Vorgeschichte dieses Vorfalls, dessen Zeuge ich wurde, begann im Jahr der Währungsreform und der beiden Staatsgründungen. Ich war damals neun Jahre alt. Meine Großeltern waren bei Nacht und Nebel aus Thüringen geflüchtet und zu uns in die Heide gekommen. Meine Omi, wie ich als Kind meine Großmutter zärtlich nannte, hatte in unserem Sechs-Personen-Haushalt nicht nur bald die Küche unter sich. Sie hatte auch, obwohl völlig ungeübt in ländlichen Verrichtungen, den Hühnerhof übernommen. Omi organisierte die Kükenaufzucht, fütterte täglich zur selben Stunde die etwa zehn Hennen und den einen Hahn, wartete rücksichtsvoll das Ende des Triumpf-Gegackers ab und nahm unauffällig die Eier an sich. Sie entschied auch, ziemlich rigoros, welches Tier in den Topf kam, wenn sich seine Eierproduktion so drastisch verminderte, dass es Körner-Futter pickte und den erwarteten, verzehrbaren Gegenwert schuldig blieb und eine positive Veränderung dieses Missverhältnisses nicht mehr zu. erwarten war.

 

Jede Henne erhielt von meiner Großmutter einen Namen, der sie an ihre Nachbarn und Bekannten in der Weimarer Bahnhofsstraße erinnern sollte, wo sie lange Jahre bis zu ihrer Umsiedlung in unser Dorf gewohnt hatte. Eine braune Italiener-Henne hieß Frau Schrickel so wie Omis Nachbarin rechter Hand in Weimar. Und es war der frühe Tod dieses Tieres, um den es in der adventlichen Familienratssitzung gegangen war.

 

Zu meinem Erstaunen hatte ich schon lange bemerkt, dass meine Großmutter Frau Schrickelbevorzugte. Bei der sonntäglichen Zuteilung von chokoladenpudding an die Familienmitglieder war meine Omi selbst für meinen kritischen Blick unbestechlich gerecht. Doch auf dem Hühnerhof sorgte sie dafür, dass diese Henne ihre Ration Hühnerfutter ungestört genießen konnte, indem sie die gierigen Anderen wegscheuchte oder Frau Schrickel auf den Arm nahm und in einen für Hühner unzugänglichen Teil des Gartens trug. Das Tier gewöhnte sich bald an diese Sonderstellung, lief sofort auf meine Großmutter zu, sobald sie ihren Futter-Lockruf „Put- put-put“ erschallen ließ, hockte sich vertrauensvoll und ergeben vor ihre Füße in der nie enttäuschten Erwartung, auf den Arm genommen und gestreichelt zu werden.

Es entwickelte sich eine Liebesbeziehung zwischen meiner Omi und Frau Schrickel, die von Jahr zu Jahr intensiver wurde. Ich war damals hochtrainiert in der Kunst, jede Art von Bevorzugung detailgenau zu registrieren, immerhin konkurrierte ich in der Familiengunst mit einem älteren Bruder. So widmete ich diesen Vorgängen meine Aufmerksamkeit und große Verwunderung.

Doch ich glaube, der Rest der Familie bemerkte diese Unregelmäßigkeit erst, als im Vorfeld des Weihnachtfestes 1951, ich war damals 12, das Festtagsmenü besprochen wurde. Frau Schrickel sei dran. Sie habe das Eierlegen doch inzwischen fast eingestellt, sei besonders wohl ernährt, und man könne sie sich gut gebraten zu Thüringer Klößen vorstellen. Meine Eltern waren sich da einig.

Ich schaute meine Großmutter an, bemerkte, dass ihre Blicke von einem Gesicht zum anderen huschten, sehr beunruhigt, wie mir schien.

 

Und dann hatte sie unvermittelt in das Stimmengewirr hinein das Wort ergriffen: „Frau Schrickel nicht!“ Ich hörte sie in der Küche ärgerlich murmeln. Und was immer sie da sagte, es war das letzte Wort in dieser Angelegenheit.

 

Im Laufe des nächsten Jahres stellte Frau Schrickel das Eierlegen vollends ein, was die sich fortentwickelnde Zuneigung meiner Omi zu diesem Stück Federvieh und umgekehrt nicht minderte. Es war anrührend zu beobachten, mit welch kindlichem Vertrauen, mit welcher Selbstpreisgabe sich dieses Tier meiner Großmutter vor die Füße legte, mit welch sanftem, wohligstem „Gog-gog-gog“ es auf den Lockruf dieser kleinen, weißhaarigen Frau mit dem lächelnden Gesicht antwortete, noch einen kleinen Schritt näherrückte, um sich schließlich erwartungsfroh niederzulassen Und mit welcher behutsamen Zärtlichkeit meine Großmutter mit rheumakranken Fingern das braungraue Huhn umfassten, es emporhob zu ihrem leicht geneigten Kopf, ihren freundlichen Augen. In Augenhöhe blickten sie einander sekundenlang an, bis das Tier in dem linken Arm seiner menschlichen Gönnerin Platz nahm und sich das Streicheln der rechten Hand über Hals und Brust gefallen ließ. ..

Frau Schrickels Geschwister waren inzwischen dem Hackebeil meines Großvaters zum Opfer gefallen und im Familiensuppentopf gelandet. Neue Hühnergenerationen scharrten und pickten im Garten, namenlose Eierproduzenten, Fleischeinlage in der Nudelsuppe. Frau Schrickel überlebte unter dem Schutz und Schirm meiner Omi.. Kein Familienmitglied wagte es einen begehrlichen Blicke auf diese überfällig schlachtreife Henne zu werfen. Bald konnte sich auch niemand mehr vorstellen, dass der Verzehr so uralten Hühnerfleisches ein Genuss sein würde. Vor allem aber hatte die Familie seit jenem denkwürdigen Weihnachtsfest das besondere Verhältnis meiner Omi zu diesem Tier zu respektieren gelernt.

 

Frau Schrickels Tod kam überraschend, gewaltsam aber schnell: Vertrauensselig folgte sie meiner Großmutter überall hin, und eines Tages auch durch die offengelassene Gartenpforte auf die Straße. Ein Auto raste heran. Meiner Omi gelang der rettende Sprung auf den Bürgersteig, Bremsen quietschten, ein hilfloses Flügelschlagen, ein ersterbendes Gackern, und Frau Schrickel war nicht mehr.

Omi barg das tote Tier in ihrem Arm und bettete es sanft im weichen Gras des Rasens. Sie richtete sich auf und verharrte minutenlang. Dann holte sie einen Spaten und begrub schweigend ihre Freundin unter dem Sauerkirschenbaum. Für den Rest  des Tages sprach sie kein Wort.

 

Blutiges Handwerk

 

Die dicke weiße Henne zappelte verzweifelt und kraftvoll und hackte um sich, als ich sie zu dem Hackklotz trug, wo ihre Hinrichtung erfolgen würde. Ich hatte meinem Großvater, der in unserem Hühnerhof das Scharfrichteramt ausübte, oft genug aus sicherer Entfernung zugeschaut, wie er es bei Kaninchen, wie er es bei Hühnern machte. Ich wusste auch, dass Hühner, sobald man sie auf den Rücken und einen Strohhalm oder Zweig über ihren Hals legt, jeden Widerstand sofort ufgeben und wie in Erstarrung fallen.

Freunde hatte ich dieses grausame Spiel schon mehrmals treiben sehen, tief beeindruckt von der Wiederholbarkeit und Wirksamkeit dieses simplen Tricks, einer der unzählig vielen, die ein zehnjähriger Junge lernt. Wir lernten voneinander in den Nachkriegjahren, als unsere Väter noch nicht zurückgekehrt waren oder sich rund um die Uhr mit dem Aufbau ihrer Existenz beschäftigten und unsere Mütter mit all ihrer Arbeitskraft dabei halfen. Uns selbst überlassen, fast verwahrlost, streunten wir auf dem verwaisten Militärgelände herum. Skrupellos, wie im Rausch, setzten wir den Krieg, den die Erwachsenen beendet hatten, auf unsere Weise fort, taten Verbotenes: An dunklen Abenden machten wir Haustürklingeln unabschaltbar oder verklebten dauerhaft Türschlösser bei ungeliebten Nachbarn, pulten Schießpulver aus herumliegenden Gewehr- oder Flakgeschossen und ließen es im häuslichen Kachelofen verpuffen, um unsere Mütter zu erschrecken. Wäscheleinen schnitten wir ab, unter den Augen der englischen Offiziersfrauen, die im Ort einquartiert waren, um daraus Lassos zu machen oder warfen Steine in ihre Schlafzimmerscheiben. Mit unseren Zwillen holten wir Krähen aus der Luft oder ersäuften auch schon mal ungewollte Katzenkinder.

Ich hatte bei all diesen Heldentaten bislang nur seltsam fasziniert, ja erregt, zugeschaut, allenfalls Handlangerdienst geleistet, aber bedenkenlos Beifall gespendet, mich nur im Sommer am grausamen Stichlingsfang aktiv beteiligt, weil die noch zuckenden und zappelnden Fischlein sich gut an Hühner verfüttern ließen. Alle Familien im Dorf hielten Haustiere, Kaninchen, Hühner, Enten, Gänse, manche auch Schweine und Ziegen oder Schafe, und wir Kinder waren zuständig für die tägliche Fütterung, fürs Stallmisten und für die Futterbeschaffung.

Es war deshalb kein ungewöhnliches Ansinnen, mit dem unsere alleinlebende Nachbarin, sie hatte lange schwarze Korkenzieher Locken und einen roten Mund, sich eines Tages wenige Tage vor Weihnachten, an mich wandte: „Du verstehst doch was von Hühnern. Sag mal, kannst du mir einen Gefallen tun?“ Ich schaute sie erwartungsfroh an, schon bereit, ihr jeden Dienst zu erweisen, denn sie war eine besondere Frau in ihrem langen bunten Seidenrock, ihrer Zigeunerbluse. Auf ihrem weißen Gesicht erschien immer ein süßes Lächeln, wenn sie mich anschaute. Natürlich hatte ich auch bemerkt, dass sie oft Besuch von englischen Soldaten bekam, die in den Kasernen auf dem nahen Fliegerhorst wohnten, sogenannte Besuche, wie man im Dorf vielsagend und anzüglich bemerkte.

 

Und dann war da noch die Erinnerung an die Zeit, als uns mehrmals in der Woche der Fliegeralarm in die Keller oder Bunker jagte. Das lag inzwischen schon drei Jahre zurück. Meinen Ohren entging damals kein unter dem Siegel größter Vertraulichkeit herumerzähltes Gerücht, keine Ungeheuerlichkeit. „Sie hört Feindsender!“ Und: „Eine deutsche Frau schminkt sich nicht!“, wurde da über sie gesagt, während wir dem Dröhnen der Flugzeugmotoren über uns lauschten, manchmal am Tag die grauen Geschwader in der Luft sahen, am Nachthimmel dann das grelle Licht der sogenannten Tannenbäume, Leuchtkugeln, die an Ballons hingen und die Bombenziele markierten. Und später zuckten wir zusammen, wenn Blitze, die Nacht erhellten und von weit her ein Donner heranrollte, der anders war als bei einem Gewitter. Ein geheimnisvoller Zusammenhang wurde da angedeutet, zwischen dem Verhalten dieser Frau und den beklemmenden von Mund zu Mund ausgetauschten Nachrichten über Tod und Zerstörung. Sie war ja auch niemals unter uns, wenn wir uns ängstlich zusammenkauerten, so als wäre sie immun. Sie war die erste, die ein weißes Bettlaken aus ihrem Dachfenster hängte, als die englischen Soldaten in unser Dorf einmarschierte, was in unserer Nachbarschaft mit Verachtung, ja Abscheu kommentiert wurde: „Ein Deutscher ergibt sich niemals!“ Und mit Beginn der Nachkriegszeit ging sie stolz und selbstbewusst durch den Ort zum Einkaufen, wurde sogar in langen Hosen gesehen.

 

Frauen und wir Kinder hatten an kleinen Zeichen bald erkannt, dass die ehemaligen Feinde sympathische Menschen waren, wenn sie sich unsoldatisch aufführten und von ihren Frauen begleitet den Kinderwagen durchs Dorf schoben, wenn sie uns Cadbury Schokolade oder Spearmint Chewing-Gum zusteckten.

Meine Mutter hatte Arbeit als Köchin in einer englischen Kaserne auf dem Fliegerhorst gefunden. Fast täglich brachte sie reichlich "Hühnerfutter" mit nach Hause, einen Blechtopf mit Henkel, in dem sich unter einer dünnen Tarnschicht von Küchenabfällen ungeahnte Leckereien befanden, Lammfleisch, "gute" Butter, Kaffee. Die Wache, die sie passieren musste, schaute nicht so genau hin. Einmal schmuggelte sie einen ganzen Ochsenschwanz in ihrer Kleidung nach Hause, den ihr der englische Küchenchef zugesteckt hatte, als er von ihr erfuhr, dass sie zwei Söhne hatte und einen hungrigen Mann, der gerade aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war. Und trotzdem: Der offenherzige Seitenwechsel machte unserer Nachbarin in den Augen der Dorfbewohner zur Verräterin. Und ich war hin- und hergerissen zwischen solidarischer Ablehnung und eigensinniger Faszination.

 

Einen Gefallen sollte ich dieser Frau tun. Ihr Mund mit den blutroten Lippen in ihrem elfenbeinfarbenen Gesicht, öffnete sich. Ich war ganz Auge und Ohr.

„Also“, sagte sie, „ich will mir zu Weihnachten etwas Gutes tun und die weiße Henne verspeisen, legt schon lange nicht mehr, frisst nur noch und wird fetter und fetter. Hätte sie schon längst geschlachtet, trau mich aber nicht, kriege das nicht fertig. Ob du vielleicht? Du bist doch schon ein großer Junge, fast schon ein Mann. Ich glaube, du kannst das.“

Ich fühle mich geschmeichelt. Ein großer Junge! Fast schon ein Mann! Das ging runter! Ich überlegte gar nicht erst, fragte auch nicht, ob nicht vielleicht doch besser mein Großvater... „Klar!“ , sagte ich mit fester Stimme, mit der ich meine Beklommenheit überspielte. „Klar, mach ich, kein Problem! Sagen Sie mir nur Bescheid, wenn es soweit ist.“ Mischte sich da in meine Entschlossenheit nicht ein wenig Hoffnung, dass ich Zeit gewinnen und vielleicht doch mein Großvater mir das blutige Geschäft abnehmen würde?

„Ja, also ich dachte...“ Unsere Nachbarin zögerte, schaute mich an mit diesem schönen weißen Gesicht und dem süßen Lächeln, in dem ich mich badete, öffnete den blutroten Mund mit den vollen Lippen: „Also, ich dachte, du könntest das vielleicht sofort machen. Oder hast du keine Zeit?“ Natürlich hatte ich Zeit für die Wünsche dieser Göttin. „Klar, geht an! Hole nur mal eben das Beil.... Also, bin gleich wieder da.“

 

Schon auf dem Weg zu dem Holzschuppen, wo mein Großvater seine Gerätschaften aufbewahrte, dachte ich darüber nach, wem ich mit welchen Worten von meiner Großtat berichten würde. Ich öffnete die Tür zu dem Reich, in dem mein Großvater regierte. Penible Ordnung! Gartengeräte an der Wand, der Gartenschlauch, sauber aufgewickelt, zwei Sägen. Gegenüber die Werkbank.Neben dem Werkzeugkasten lagen da die große schwere Axt, mit der er Bäume fällte, die etwas kleinere Axt, mit der er Holz spaltete, das große Beil, mit dem er einhändig im Wald trockene Äste abhieb, und das kleine Beil, mit dem er aus den groben Feuerholzklötzen, Späne zum Feueranmachen herstellte.

Seine Werkzeuge waren frisch geschliffen und glänzten auf, als ich die Tür öffnete. Ich nahm die beiden Beile in die Hand und wog sie, entschied mich für das kleine Beil, da ich es einhändig handhaben konnte. Fast hoffte ich, dass mein Großvater kommen und mich fragen würde, was ich denn da trieb. Er hätte sich sicherlich eingemischt und die Arbeit selbst übernommen. Doch in diesen Tagen verkaufte er Weihnachtsbäume auf dem Markt und würde erst spät nach Hause kommen.

Nein, keine Chance! Ich war allein, mutterseelenallein. Und dann gab ich mir einen entschlossenen Ruck.

 

Wenig später fand ich mich, in der einen Hand die zappelnde Henne und in der anderen das blitzende Beil, vor dem Hackeklotz stehen. Die Nachbarin hatte sich in ihr Haus zurückgezogen. Die Haustür war zu. Ganz einfach, redete ich mir zu, du legst die Henne auf den Rücken und ihr dann einen Strohhalm über den Hals, dann ist sie ganz ruhig. Dann holst du aus und hackst ihren Kopf ab. Sie wird überhaupt nichts merken.

Doch ich spürte, wie ich am ganzen Körper zu zittern begann. Auch meine Hand zitterte. Das durfte nicht sein. Das stand in keiner Anweisung. Ich rief mich zur Ordnung. Tatsächlich, die Henne lag da, ruhig, wie es schien, in Erwartung ihres sicheren Todes oder schon in ihren Gedanken im Hühnerhimmel. Ich holte aus und ließ das Beil hinuntersausen, mit der ganzen verzweifelten Kraft eines Zehnjährigen, dessen Muskeln durch tägliche Gartenarbeit trainiert waren und der unter dem Druck dieser besonderen Aufgabe über sich hinauswuchs.

Das Beil grub sich ins Holz des Hackklotzes, die Henne sprang auf, heftiges Gackern, Flügelschlagen und war erst einmal verschwunden. Verfehlt! Ich blickte mich um. Hatte sie es gesehen? Mir war, als ob sich die Gardine ihres Küchenfensters bewegte. Es war nicht leicht, das Beil aus dem Holz zu ziehen. Ich musste mit beiden Händen anfassen. Schließlich hielt ich es wieder einsatzbereit in den Händen. Eine solch blamable Panne durfte ein zweites Mal nicht geschehen.

 

Aber zunächst galt es, die Henne einzufangen. Sie war in den Stall geflüchtet Ich schaute durch die Einstiegsöffnung. Sie hatte sich in den äußersten Winkel verkrochen, außer Reichweite meines Armes. Ich sah ihr linkes Auge und hörte ihr leises wie um Erbarmen flehendes Gog, Gog. Sah, wie sie sich noch tiefer in die Ecke drückte. Ich versuchte, sie mit meinem Futterruf zu locken. Doch sie ließ sich nicht darauf ein. Wut stieg in mir auf. Mich so zu blamieren! Ich musste also hinein. Die Tür schloß ich hinter mir, es wurde dunkel. Ihr weißes Gefieder leuchtete, wies mir die Richtung. Ein beherzter Griff, ein rächender Schnabelhieb, Flattern und Flügelschlagen und empörtes hilfeschreiendes, kreischendes Gackern. Mit blutendem Finger griff ich ihr ins Gefieder, packte sie brutal mit einer Hand, fasste mit der anderen hart und unbarmherzig nach, hatte sie fest im Griff. Ein zweites Mal schleppte ich das Tier zu der Richtstätte.

Auf den Strohhalmtrick wollte ich mich diesmal nicht verlassen. Mit beiden Händen drückte ich ihren Rücken auf den Klotz, hielt sie dort mit der linken Hand fest, griff nach dem Beil und schlug zu. Blut spritzte auf mein kariertes Hemd. Meine linke Hand ließ los.

 

Das Huhn flog davon! Ich sah ihm hinterher. Ein kopfloses Huhn flatterte in der Luft. Nahm Kurs auf den Stall. Ein, zwei...mindestens fünf Flügelschläge in diese Richtung. Lautlos. Dann das Wegsacken zur linken Seite. Schließlich der Absturz. Mein Blick fiel auf mein blutverschmiertes Beil, auf meine blutverschmierte Hand. Dann auf den Hackklotz. Dort lag der Kopf. Aus einem weitaufgerissenen Auge schaute er mich an. Es kostete Überwindung, ihn mit dem Beil auf die andere Seite des Hackklotzes zu schubsen.

Die Haustür öffnete sich und heraus kam die Nachbarin, lange schwarze Korkenzieher-Locken, blutroter Mund, ihr weißes Gesicht noch weißer, wie mir schien, bleich. Ein gefrorenes Lächeln, gar nicht mehr süß. Mit spitzen Fingern und weit von sich gestreckten Händen hob sie das Tier auf, ließ es ausbluten.

„Das hast Du gut gemacht!“, sagte sie. „Tapferer Bub. Danke! War wohl das erste Mal?“

Ich sah an meinem Hemd herunter. Als ich das Blut mit dem Taschentuch abtupfen wollte, waren die Tropfen schon geronnen.

Ich nahm das Beil. Der Schnabelhieb hatte eine blutende Wunde an meinem Mittelfinger hinterlassen. Der Griff des Beiles war verschmiert. Unter unserem Außenwasserhahn wusch ich das Blut von der Klinge und dann von dem Griff ab, legte das Beil zu den übrigen in den Schuppen. Im Haus wusch ich mir die Hände und klebte ein Pflaster auf die Wunde. Mein Hemd zog ich aus und warf es in der Waschküche in den Wäschekorb.

Mein Pflaster und die Blutflecken auf meinem Hemd blieben unbemerkt bzw unbeanstandet, was nicht weiter verwunderlich war, da kleine Verletzungen an der Tagesordnung waren und deshalb gar nicht mehr auffielen.

 

Der Nachbarin ging ich in Zukunft aus dem Weg. Auch sie vermied den Kontakt zu mir. Ein neutrales „Guten Morgen!“, wenn sie mich sah. Und ein genuscheltes „Guten Morgen!“ von mir zurück.

Offensichtlich hat sie meinen Eltern kein Wort über meine Heldentat berichtet. Erst im folgenden Jahr erzählte ich die Geschichte an einem Adventsabend meinen Eltern. Sie lachten darüber, machten aber Bemerkungen, aus denen ich schloss, dass mein Großvater möglicherweise nicht für mich eingesprungen wäre, dass zu diesem Zeitpunkt, drei Jahre nach dem Kriegsende wohl niemand im Dorf dieser Frau einen Gefallen getan hätte.

 

Übrigens, die Wunde an meinem Mittelfinger hatte sich am Tag nach meiner Bluttat entzündet und war vereitert. Sie wurde wie unsere zahlreichen Furunkel mit schwarzer Ichtholansalbe behandelt und heilte bald zu. Zurück blieb eine kleine Narbe.

 

Krankenbesuch 

 

Ein kalter  Novemberwind trieb  mich  durch  die Drehtür in  die Eingangshalle. Der  kahlköpfige kleine Mann im Glaskasten der  Information wandte sich  sofort  dem  Bildschirm zu, nachdem  ich  den  Namen  genannt hatte und sagte „Innere Abteilung, Station 23, Männer, Zimmer  6.“  Er  sah  mich  dabei  nicht an, so  als sei  es ihm peinlich, diese Information  von sich  zu geben. Als ich  gehen wollte, rief  er  mir noch  hinterher: „Nehmen  Sie den  Aufzug in den 2. Stock, dort  rechts bis zur Glastür.“  Seine Stimme  klang so, als wolle er durch  diese Freundlichkeit  das  Gewicht seiner  Information mildern und etwas wieder  gutmachen.

 

Nun stand ich  im Flur vor der  breiten  Krankenzimmer-Tür. Dahinter  vernahm ich  die Geräusche des Menschen, den  ich  besuchen  wollte. Wollte ich  das? Ich hörte sein mir wohlbekanntes Husten, dasselbe trockene Bellen. So  vertraut. Jeden  Morgen hatte ich  ihn husten  hören, als ich  noch  mit ihm unter  einem Dach schlief. Eine weibliche Stimme rief  laut seinen  Namen, der  auch  meiner  war. Immer  wieder. Er  antworte schließlich mit einem kaum verständlichen  Lallen, begleitet  von einem  schweren Keuchen  und einem Würgen. „Sie müssen jetzt ihre Medizin nehmen!“ hörte ich  die Krankenschwester. Ich  vernahm gurgelnde Geräusche,  ein Aufstöhnen und dann  war ganz plötzlich  Stille, bis ich  seine charakteristischen  Schnarchtöne erkannte. Eingeschlafen.

Plötzlich  packte mich  Panik. Gleich  würde die Schwester  auf den  Flur hinaustreten, mich  sehen  und mich nach  meinem Namen  und meinem Anliegen fragen. Dann würde es zu spät sein - für´s Davonlaufen. Fast  fluchtartig drehte ich  mich  und eilte  den  Flur entlang durch  die Glastür, zum Aufzug,  an dem  Glaskasten  vorbei  dem  Ausgang zu  ins Freie.

 

„Mit mir ist  nichts mehr los, Junge“, hatte mein Vater  zu mir gesagt. Das  war  vor knapp einem  Vierteljahr gewesen, bei  einem  meiner  immer  seltener  werdenden  Besuche im Heimatdorf. Resignation und Aufgeben hatte ich in seiner  Stimme gehört. Ich  war  Student und hatte ein Zimmer  in der großen  Stadt. Freunde, Freundinnen, Einladungen, Parties. „Du kommst  wohl bald gar  nicht mehr hierher!“ hatte meine Mutter  zu mir gesagt, als ich  aus dem  Bus stieg. Und als wir uns meinem  Elternhaus näherten: „Dein Vater  ist  im Gewächshaus, geh  man erst mal  zu ihm.“ 

Er  sah  krank aus, klein und schmächtig und müde. Immer  wieder  schüttelte ihn der  Husten.

Der zähe,  tatkräftige Mann, als den ich ihn in meiner  Kindheitserinnerung bewahrt hatte, vom  sichtbaren  Verfall gezeichnet, erschreckend plötzlich für mich. Da stand er, sechzigjährig, über  Pikierkästen  gebeugt in dem  Gewächshaus, das  er  selbst gebaut hatte auf einem  Stückchen  Heideland,  mit eigener  Hand urbar  gemacht nach  seiner  Heimkehr aus dem  Krieg. Ich  war  sechs, als ich  ihn im Herbst  1945 kennen lernte,  noch  zu klein, um bei  der  harten  Aufbauarbeit  nützlich zu sein, die er  damals entschlossen  und kraftvoll anpackte.  „Mit mir ist  nichts mehr los, Junge!“ sagte er  und sah  mich  dabei freundlich  wie um Verzeihung bittend an.

 

Als ich  meiner  Mutter  später  am  Tag  in der  Küche gegenübersaß,   erzählte sie  mir  die ganze Geschichte. Er  sei  zu einer  Lungen-Reihenuntersuchung gegangen. Habe wenig später  eine Aufforderung zu einer  Nachuntersuchung  bekommen. Ein  fünfmarkstückgroßes Gewächs sei  da in seiner  Lunge, er  müsse ins Krankenhaus, um dort  weiter  untersucht und eventuell  bestrahlt zu werden.

 

Am Familientisch beim Abendessen und Mittagessen  am  nächsten  Tag wurde das  Thema nicht weiter  besprochen. Ich  sollte erzählen und das  tat ich  dann auch. Begierig lauschten meine Eltern meinen  erfolgsgespickten  Berichten über  mein so  buntes, ereignisreiches  Studentenleben, teilten  meine Freude und meine Begeisterung.

 

„Wird  schon werden“, sagte mein Vater, als ich  mich  von ihm verabschiedete und ihm alles  Gute wünschte. „Mach  dir keine Sorgen!“

 

Wochen  später  erhielt ich  einen  Brief  von meiner  Mutter. Nie zuvor hatte sie mir geschrieben. Sehr in Sorge sei sie. Mein Vater  sei nun im Kreiskrankenhaus, kriegte dort  Bestrahlungen . Bronchialkarzinom habe der  Stationsarzt gesagt, nicht operabel. Ob ich  meinen  Vater  nicht dort  besuchen  wolle, am besten  gleich  am nächsten  Wochenende. Ich  könne doch  über  Celle fahren, dort  ins Krankenhaus gehen und anschließend ins Dorf  kommen, um zu berichten. Zweimal  hatte ich  den  Wochenendebesuch aufgeschoben, bis heute.

 

Endlich  im Freien! Auf dem  Weg vom Krankenhaus zur Bushaltestelle und auf der  halbstündigen  Busfahrt in mein Heimatdorf dachte ich  darüber  nach, was ich  zuhause erzählen  würde. Natürlich, er  habe geschlafen und mich  nicht wahrgenommen. Jämmerlich  kam ich mir vor. Kein Gedanke, dass ich  die schlichte Wahrheit erzählen  würde. Ja, und dann kann ich  noch  sagen, überlegte ich  mir, die Stationsschwester  habe mir gesagt, dass er  starke  Mittel  bekäme und keine Schmerzen  aushalten  müsse.

 

Ich  denke oft  an  meinen  Vater, bedaure, dass ich  ihn nicht  berührt  hatte an  jenem Tag, als ich  ihn besuchen  wollte. Vielleicht wäre er  ja aufgewacht und hätte mich  angeschaut.

 

Kürzlich  stand ich  wieder einmal nach  langer  Zeit vor seinem Grab, sah  ihn vor mir, wie er eine Kiefer fällte, ganz allein. Ich blickte in sein  schweißnasses Gesicht,  die Axt hielt er in seinen  Händen. Auf dem  freien  Oberkörper  zeichnete sich die Narbe seiner  Kriegsverletzung ab. Er schaute mich  an und lächelte mir zu.