Wo komm' ich her?
Wo geh ich hin?
Was fiel mir schwer?
Was trug Gewinn?
Was hat geprägt,
mich tief bewegt?
Was kommt mir in den Sinn?
Sofaplatz, Mitte
Oma hatte zehn Kindern das Leben geschenkt, vier Jungen und sechs Mädchen, meine Mutter war die Jüngste. Mein Großvater mütterlicherseits, war ein angesehener Schneidermeister in Celle. Ich hatte ihn nicht erlebt, er war, so erzählte man, in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gestorben, aus Gram über den Niedergang seines Geschäftes in der Inflation. Meine Großmutter überlebte ihn um gut dreißig Jahre.
Zu ihren Geburtstagen versammelte sich der größere Teil ihrer großen Kinder- und Enkelkinderschar in ihrer kleinen Altenteilwohnung unterm Dach des schmalbrüstigen Fachwerkhauses, Rundestraße Nr. 9 in Celle, in dessen Erdgeschoß mein Onkel Max seine Schneiderwerkstatt betrieb. Die Wohnung darüber bewohnte er mit seiner Frau.
Meine fünf Tanten und vier Onkel sind längst tot. An Omas Geburtstagen habe sie alle noch kennengelernt, z.B.Tante Berta, die auch so aussah und sich wie immer die rechte Sofaseite eroberte, und Tante Mariechen, die zu jedermanns Überraschung lang und dünn war, was der Name nicht vermuten ließ. Sie saß immer in der linken Ecke und damit war das Sofa vollbesetzt. Tante Berta rief sobald sie sich ins Sofa hatte plumpsen lassen:” Nun komm mal her an meine Seite!” Und Tante Mariechen rückte noch tiefer in ihre linke Ecke und klopfte mit der rechten Hand auf den entblößten Sofastreifen und krähte: “Ja kommt, zwischen uns ist es warm.” Und das wurde es dann auch.
Nachdem man mich von beiden Seite umschlungen und weich und feucht von der einen, hart und trocken von der anderen Seite her abgeküsst hatte, beeilte ich mich mit dem Verzehr meines Kuchenstücks, murmelte “ich muss mal!” und schlich mich davon, dorthin, wo auf der halben Treppe ein Absatz war, mit einer Tür, auf der WC stand. Dort verbrachte ich mehr Zeit als nötig. Auf dem Treppenabsatz stand dekorativ aufgebaut eine alte Nähmaschine und darauf war Platz für eine Topfpflanze, die aus langen schmalen spitzen Blättern bestand, eine Blüte habe ich dort nie gesehen, nur dolchartige grüne Blätter. An der Wand über der Nähmaschine hing eine alte Schneiderschere mit ganz langen Schneiden.
Irgendwann habe ich diese Schere in die Hand genommen und sämtliche Spitzen von den erwähnten Blättern abgeschnitten, sie aufgesammelt und ins Klo geworfen, die Schere wieder hingehängt und bin mit unschuldigem Gesicht ins Wohnzimmer zurückgekehrt. Dort erhob sich ächzend gerade Tante Berta und kündigte einen Toilettengang an. Als sie zurückkehrte erklärte sie der ganzen Geburtstagsgesellschaft, welcher Untat sie mich beschuldigte. Immerhin, hatte ich mir Zärtlichkeiten seitens meiner Tanten damit verscherzt, was ich verschmerzen konnte.
Kartoffelsuppe und Bruderkampf
Die Zutaten zu diesem Gericht hatten wir fast sämtlich in unserem Garten: Petersilie und Zwiebeln, Mohrrüben, Kohlrabi und Sellerie, Porree und Erbsen und Kartoffeln. Die Fleischbrühe holten wir in einer eigens für diesen Zweck bereitgehaltenen Kanne vom Fleischer. Wurst oder Fleischeinlage war Luxus in den ersten Nachkriegsjahren und nach Ansicht meiner Mutter entbehrlich. Aber, ein Hundertfünfundzwanzig-Gramm-Stück geräucherter Bauchspeck musste sein, aufgeteilt auf vier Personen sicherlich keine Völlerei.
Oft sah ich ihr zu, wie sie den Speck zerkleinerte, das ansehnliche Stück verführerisch riechenden Fleisches in winzig kleine Stücke schnitt, jedes vielleicht einen halben Zentimeter lang und, wie mir heute scheint, nur ein oder zwei Millimeter dick.
So zugerichtet wurde es zusammen mit der Schwarte, an der noch verwertbare Fettspuren hingen, in derselben Pfanne angebraten, in die wenig später die ebenfalls kleingeschnitzelte Zwiebel gegeben wurde, um in dem ausgebratenen Fett angeschwitzt zu werden, wie man es nannte, während in dem großen Topf bereits die Mischung aus zwei Liter Fleischbrühe, Kartoffeln, geschält und gewürfelt, Gemüse- und Kräuterbeigaben gar kochten.
Der Inhalt der Pfanne wurde dieser Mixtur zugefügt, mit dem Kochlöffel wurde noch einmal kräftig umgerührt, dann kam das abschließende Kosten, das Abschmecken mit Maggi und die endgültige Freigabe des Mittwochsgerichts an die Familie, die schon erwartungsfroh und hungrig um den Tisch herum saß. Jeder hatte sich eine Scheibe Brot mit Sanella- Margarine bestrichen, um sie dazu zu essen, weil zu erwarten war, dass man von zwei Tellern Kartoffelsuppe wohl nicht satt werden würde.
Während meine Eltern schweigend ihre Suppe löffelten, ab und zu von dem Butterbrot abbissen, entbrannte in aller Stille, wenngleich nicht weniger heftig, zwischen meinem Bruder und mir ein Wettkampf besonderer Art.
Er, vier Jahre älter als ich, am Ende des Krieges schon zehn, hatte irgendwann damit angefangen. Er sortierte sämtliche kleinen angebräunten und ausgekochten, dennoch schmackhaften Speckstückchen, die er in seiner Suppe fand, aus der Suppe heraus und legte sie rings um den Tellerrand, bemaß dabei ihren Abstand untereinander gleichmäßig auf etwa einen Zentimeter und hatte offensichtlich den Ehrgeiz, einmal im Leben den Kreis schließen zu können. Unsere Mutter beobachtete dieses seltsame Gebaren ihres Erstgeborenen kommentarlos amüsiert, verzichtete aber auf das eingreifendes Machtwort „Mit-dem-Essen-spielt-man-nicht!“, das immerzu spaßverderbend über dem Tisch hing und nur durch ein „Das Beste immer zu letzt!“ konterkariert werden konnte. Ich, der ich alles überscharf wahrnahm, was mein großer Bruder so machte, tat es ihm nach, in der Hoffnung, ihn am Ende der Mahlzeit, wenn der Teller leer war und wir die Strecke erbeuteter Speckkadaver in Augenschein nahmen, zu übertreffen. Doch dabei wurde so manches Mal die ganze große Ungerechtigkeit des Schicksals offenkundig. Während ein Missverhältnis von 27 zu 29 noch durchging und von uns beiden widerspruchslos hingenommen wurde, witterte ich böse hinterhältige Absicht, kalkulierten Liebesentzug gar, wenn ich weniger als 25 Stücks zählte, während mein Bruder mit 36, ja manchmal über 40 Beutestücken sich der Erfüllung seines Lebensziels näherte, den Speckstückenkreis auf seinem Tellerrand komplett zu schließen.
Umgekehrt erlebte mein Bruder bittere Enttäuschung, eklatante Benachteiligung, wenn ich der Glücklichere war und mit schicksalhaften Begünstigungen protzen konnte, die ihm versagt geblieben waren, wo er doch in Haus und Garten jeden Tag ein erhebliches Pflichtpensum erfüllen musste, während ich als der Kleine noch geschont wurde.
Da sagte er schon mal: „Immer er. Tut den ganzen Tag nichts und kriegt die meisten. Gemein ist das!“
War es auch. Denn ich hatte oft Zwiebelstücke, die ähnlich braun geröstet worden waren, wie der Speck, auf dem Tellerrand eingereiht, um meine Erfolgsbilanz zu schönen, was er von seinem Platz an der gegenüberliegenden Stirnseite des Tisches nicht erkennen konnte. Um das Täuschungsmanöver nicht auffliegen zu lassen und eine genauere Inspektion zu verhindern, pflegte ich schnell und gründlich den Tellerrand zu säubern, indem ich mit dem Löffel die wohlschmeckenden Speckstücke, gewissermaßen das Herz der Suppe, zusammen mit den dazwischen gemogelten Zwiebelstücken nach dem Durchzählen zusammenschob und mir den vollgeladenen Löffel in den Mund steckte, krönender kulinarischer Abschluss dieses schlichten Mahles, das ich mit einem triumphierenden „Gewonnen!“ nachträglich würzen konnte. Man kann sich das lange Gesicht meines Bruders vorstellen, der nun fast regelmäßig Niederlagen einstecken musste und sich nicht erklären konnte, weshalb das Schicksal ihm so übel mitspielte.
Später dann, beim Schokoladenpudding, war dieser Kampf vergessen und wurde von einem neuen abgelöst: Nun kam es darauf an, durch geschicktes Untertunneln der Haut, die sich auf der großen Puddingschüssel gebildet hatte, den schmackhafteren Teil der Ration zu erobern, so unauffällig, dass es zu keinem ordnenden Eingriff seitens unserer Mutter kam.
Aber das ist ein anderer Kriegsschauplatz.
Die kleine grüne Vase oder Unser schwarzer Teddy
Sie stand dort, wo sie eigentlich gar nicht hingehörte, die kleine grüne Vase, wie sie in meiner Familie genannt wurde. Sie war ein Fremdkörper dort in unserem Wohnzimmer auf der Kredenz, wie wir damals das Möbelstück nannten, dass man heute Sideboard nennt. Meine Mutter bewahrte ihr Sonntagsgeschirr und den Kasten mit dem Silberbesteck hinter den beiden Türen mit den schweren Messingtroddeln auf und die guten Tischdecken für den Wohnzimmertisch. Zwei Kristallschalen, eine Kristallkaraffe und eine hohe Kristallvase, standen steif und kalt und feierlich auf der schwarzen, blankpolierten Oberfläche, Gefäße, die ich nie mit irgendwelchen Inhalten gefüllt gesehen hatte, sei es Obst, Gebäck, Wein oder Blumen, die einfach nur dort standen, jedes auf einem schweren Spiegel, mit geschliffenem Rand. Dort hatte auch diese Porzellanvase ihren Platz gefunden, passte in ihrer Schlichtheit dort nicht hin, war aber etwas Besonderes, fast Heiliges, denn auf ihrem Boden stand ein Schriftzug, damals noch entzifferbar: „Für Martha, 1935“ und dann noch ein Ortsname, schon damals nicht mehr zu entziffern. „Martha“ war der Vorname meiner Mutter und das Jahr 1935 war das Geburtsjahr meines um vier Jahre älteren Bruders. Als meine Mutter starb, fanden wir die Vase in ihrer Hinterlassenschaft, und ich nahm sie an mich, weil sie mich an etwas erinnerte und niemand sie haben wollte.
Sie ist nur etwa zehn Zentimeter hoch, hat einen grün-schwarz-goldenen Bauch, darüber einen mattschwarzen Kelch, der sich mattschwarz etwa fünf Zentimeter weit öffnet. Der Kelch ist so eng, dass nur drei Blumenstengel hineinpassen, Moosröschen oder Maiglöckchen oder Federnelken, jeweils mit etwas Grün. Für Edelrosen, Flieder, Narzissen oder Tulpen ist diese Vase völlig ungeeignet. Man braucht sie gar nicht genau zu betrachten, um die Spuren einer Beschädigung zu entdecken. Der Rand weist eine Narbe auf, nur etwas einen Zentimeter lang. Ein Stück Porzellan war dort offensichtlich herausgebrochen und nicht sehr fachmännisch wieder eingefügt worden.
Weshalb ich zusammen mit dem rosenblättrigen 18teiligem Kaffeeservice aus feinem Porzellan diese unscheinbare, altmodische Vase als Erbstücke meiner Eltern aufbewahre? Bislang war es mir immer etwas peinlich, den Grund zu nennen. Heute erzähle ich die Geschichte, um zu veranschaulichen, welcher Art die Schatten der Vergangenheit sein können, die sich über ein ganzes Leben legen und Beziehungen verdunkeln. Und für diese Geschichte müsste ich eine eigene Überschrift erfinden. Die könnte lauten: Unser schwarzer Teddy.
Wem von uns beiden er geschenkt worden war, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Er war schon immer da gewesen. Irgendein Verwandter hatte ihn mal
mitgebracht und zurückgelassen, in der wohlmeinenden Absicht, uns Kindern damit eine Freude zu machen. Aber für meinen Bruder und für mich war er nur selten ein Quell der Freude. Zumeist gab es Streit um seinen Besitz. Gar nicht einzusehen eigentlich, denn mein Bruder war vier Jahre älter als ich und in den ersten Nachkriegsjahren, als unser Teddykrieg eskalierte, dem Teddyalter schon entwachsen, hätte ihn mir, wie ich meinte, großmütig überlassen können, der ich doch erst sechs und der Kleine war.
Verständlich war unsere Liebe zu dem Weichtier schon. Er hatte ein plüschiges, glattes Fell, fühlte sich weich und warm an, kuschelig. Seine dunkelbraunen Knopfaugen glänzten. Um seine leicht verzogene Schnauze war so etwas wie ein nachsichtiges Lächeln, so als machte er sich über uns lustig. Das rechte seiner flauschigen Ohren hing mitleiderregend herab, jemand hatte wohl einmal zu heftig daran gezerrt. Er gab einen wunderschönen tiefen Brummton von sich, wenn man ihm den runden Bauch drückte. Seine Ärmchen und Beinchen waren noch absolut intakt, obwohl sie längst Spuren unserer handgreiflich ausgetragenen Besitzansprüche hätten aufweisen müssen. Stabil eben, Vorkriegsware, pflegte meine Großmutter zu sagen. Wahrscheinlich stammte er aus
ihrem reichlichen Fundus an Kinderspielzeug. Immerhin hatte sie zehn Kinder großgezogen. Wahrscheinlich war sie es gewesen, die ihn bei einem ihrer regelmäßigen Besuche während der ersten Kriegsjahre mitgebracht hatte. Meistens entbrannte der Streit um den Teddy in den frühen Abendstunden, wenn mein Bruder und ich ins Bett sollten. Ich war es, der regelmäßig Anlass zu den heftigsten Auseinandersetzungen gab, denn ich erhob Anspruch darauf, ihn mit in mein Bett zu nehmen. Und obwohl mein Bruder seiner nicht bedurfte, denn er las ohnehin heimlich im Bett Groschenromane, in denen die Cowboys die Indianer totschossen, machte er mir dieses Recht streitig. „Er gehört dir nicht alleine, er gehört mir auch.!“
Unsere Eltern griffen in diese Kämpfe nicht ein. „Vertragt euch!“, war ihre übliche Reaktion, „sonst müsst ihr barfuß ins Bett.“ Und irgendwie schien diese Drohung zu wirken, meistens gab mein Bruder nach, weil sein Interesse tatsächlich nur prinzipieller, nicht existenzieller Natur war, wie meins.
Doch an jenem denkwürdigen Abend irgendwann vor Weihnachten war das anders. Zwischenunseren Eltern hatte es einen heftigen Wortwechsel gegeben, als meine Mutter nach einem langen Arbeitstag als Köchin in der Unteroffiziersmesse der englischen Besatzungssoldaten nach Hause kam und sah, dass wir beiden Jungs den Tag mal wieder verspielt hatten, ohne unseren Pflichten nachzukommen. „Du kümmerst dich überhaupt nicht um die Erziehung deiner Kinder!“, hatte ich meine Mutter sich heftig bei meinem Vater beklagen gehört. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen Schneeschieben und die Brennholzkiste auffüllen und Briketts aus dem Keller holen. Nichts haben sie gemacht. Du kannst ihnen ja auch mal was sagen, aber du kümmerst dich ja nur um deine Gärtnerei! Immer muss ich für Ordnung sorgen, alles bleibt an mir hängen.!“ Und dagegen dann: „Und ich habe meine Arbeit!“, die tiefe Stimme meines Vaters, gereizt und abwehrend. Eine Tür hatte geknallt. Beim Abendbrot lag eine spürbare Spannung über dem Tisch. Schweigend schmierten wir Kinder unsere Graubrotscheiben mit Sanella und Leberwurst oder gekochter Mettwurst, schweigend belegte unser Vater seine Brotscheiben mit Rindermett, das er sich vorher mit Salz und Pfeffer und Zwiebeln und Schnittlauch genießbar gemacht hatte, schweigend löffelte unsere Mutter den warmgemachten Suppenrest vom Mittag aus ihrem Teller.
„So, marsch, marsch ins Bett!“, hieß es dann, nachdrücklich und verärgert, “Waschen und Zähneputzen nicht vergessen!“.Wir zogen ab. Natürlich besetzte mein Bruder als erster das Bad und ließ sich Zeit. Ich legte inzwischen meinen Teddy aufs Kopfkissen und deckte ihn bis zum Hals zu, so dass nur sein Kopf und sein linker Arm hervorschauten, zupfte sein krankes Ohr zurecht, strich ihm mit der Hand über das Köpfchen, weil er das gerne hatte, stopfte noch sein kleines Kopfkissen so unter seinen Kopf, dass er etwas auf der Seite lag und mich anschauen würde, zog meinen Schlafanzug an und wartete, dass mein Bruder das Bad freigab. In die Vorfreude auf ein wohliges Einschlafen, geborgen in der tröstenden Nähe meines stummen Beschützers und zu umsorgenden Freundes mischte sich die beklemmende Befürchtung möglicher Störung meines Glücks durch meinen Bruder. Und da war er auch schon.
Mit einem Griff fischte er seinen Schmöker aus der untersten Schublade der gemeinsam genutzten Kommode heraus, wo er ihn unter seinen Strümpfen und Socken versteckt hielt, packte auf dem Wege zu seinem Bett den Teddy am Ohr und zog ihn brutal aus dem wohligen Lager, das ich ihm und mir so liebevoll
bereitet hatte. Er warf ihn in die äußerste Ecke seines Bettes, das unter der Dachschräge stand, schlüpfte unter seine Bettdecke, um sich sofort in sein Cowboygeschichte zu vertiefen, ohne dem Teddy die mindeste Aufmerksamkeit zu widmen. Ich schrie auf und wollte ihn zurückholen. Ein wilder Kampf entbrannte. Schließlich saß ich heulend auf meiner Bettkante und betrachtete verzweifelt und empört das rechte Bein meines Teddys, das ich in der Hand hielt. Mein Bruder warf mir den Rest von meinem Teddy auf das Fußende meines Bettes, sagte noch: „Da hast du ihn, ich will ihn nicht mehr!“ , als auch schon unsere Mutter in der Tür stand. Mit einem Blick erfasste sie die Situation und meinte sie zu verstehen. „Nun reicht es aber! Da kriegst du es jetzt mit deinem Vater zu tun.!“, wandte sie sich mit funkelnden Augen mir zu, jeden Protest erstickend. „Na warte!“, setzte sie noch hinzu und polterte rachedurstig, wie mir schien,die Treppe hinunter. Ich schlich ins Badezimmer, wusch mich und putzte mir die Zähne so gründlich wie noch nie, vielleicht in der geheimen Hoffnung, drohendes Unheil durch diese Willfährigkeit abzuwenden. Wirklich Schlimmes war eigentlich nicht zu erwarten, da mein Vater uns nie schlug, uns allenfalls ausschimpfte oder, und das war die schlimmste Strafe, uns „links liegen ließ“, wie es bei uns hieß. Allerdings hielt er auch das nie länger als einen Tag durch, da er unsere Handlangerdienste in seiner Gärtnerei bei vielen Verrichtungen brauchte. Ich legte mich ins Bett. Den amputierten Teddy im Arm lauschte ich nach unten, ob sich dort die fällige Reaktion ankündigte. Aber mehr als ein undeutliches Gemurmel war nicht zu vernehmen, es war die Stimme meiner Mutter, ärgerlich und fordernd. Plötzlich die Stimme meines Vaters, ungewöhnlich laut, aber so, als koste es ihn eine Anstrengung, die Stimme zu erheben. „Kommt runter, ihr Beiden!“ „Wer hat den Teddy kaputtgemacht?“, fragte mein Vater, als wir barfuß in unseren Schlafanzügen am Fuße der Treppe im Flur standen. „Ich nicht, ich habe ihn nur festgehalten!“, sagte mein Bruder. „Und du, was hast du gemacht?“, wandte er sich an mich, ohne mich anzuschauen. „Ich wollte ihn wiederhaben, weil...“. „Das reicht!“, entschied mein Vater. „Komm mit!“ Er stieß die Tür zu unserem Wohnzimmer auf, das wir nur sonntags oder bei Familienfeiern benutzten, schob mich mit harter Hand hinein, schloß die Tür und legte mich übers Knie. Plötzlich hatte er den Teppichklopfer in der Hand, als sei er dort bereitgelegt worden. Drei Schläge aufs Gesäß verabreichte er mir, die nicht sonderlich schmerzten. Ich weinte trotzdem. Immer wieder versuchte ich von Schluchzen unterbrochen zu erzählen, wie gemein mein Bruder gewesen war und dass er eigentlich schuld sei. Doch mein Vater hörte nicht zu. Mit einer fahrigen Handbewegung wollte er den Teppichklopfer auf die Kredenz legen. Dabei stieß er die kleine grüne Vase um, die dort zwischen den Kristallgefäßen stand.
Als ich nach oben in unser gemeinsames Zimmer kam, lag mein Bruder schon im Bett und hatte seine Nachtischlampe ausgemacht. Er tat, als ob er schliefe. Ich weinte noch einige Zeit wütend und gekränkt in mein Kopfkissen.Der Teddy verschwand in einer unserer vielen Schubladen. Ich habe ihn nicht mehr angerührt.
Sicher bin ich mir nicht, dass die Beschädigung an der kleinen grünen Vase entstanden war, als mein Vater sie in seiner Erregtheit umgestoßen hatte. Ich habe die Reparaturstelle erst später entdeckt und mir den Zusammenhang gedacht, aber nie danach gefragt, wollte sie nicht wieder aufreißen, die alten vernarbten Wunden.