Lisa und das kleine Glück
Ich seh‘ sie oft, die alte Dame,
allein mit Hund die Runde dreh’n.
Verlor‘n ging ihr Familienname,
man sagt: „Ach, Lisa!“ und bleibt steh‘n.
Und plaudert mit ihr dies und das,
der Hund, das Wetter und die Schmerzen,
Und sagt vielleicht nur irgendwas,
um Leiden weg zu scherzen.
„Nein, nein“, sagt sie, „ich kann nicht klagen,
mir geht es gut noch, relativ.“
Und möchte doch am liebsten sagen:
„Ich bin allein…“ und seufzt dann tief:
„Ich hab‘ die Wohnung, etwas Geld
und bin noch relativ gesund.
Bin nicht alleine auf der Welt,
hab‘ meine Bücher und den Hund.“
Sie trägt die Last der Lebensjahre,
doch spricht sie zärtlich mit dem Tier,
und streichelt seine grauen Haare
und kriegt sein ganzes Herz dafür.
Alte Liebe
Sie gingen langsam und am Stock,
die beiden Alten, vor mir her,
in grauer Hose, grauem Rock,
zu geh‘n fiel ihnen schwer.
Sie hatten dreiundsechzig Jahre
gemeinsam zugebracht.
Die krummen Rücken, grauen Haare –
des ganzen Lebens Fracht.
Ein langes Leben brav ertragen,
und manchmal auch genossen.
Des And‘ren Last zu tragen wagen -
war so der Bund beschlossen?
Des And‘ren Last – wie schwer die wiegt!
Wer kann da nur erahnen?
Wenn man der eignen Last erliegt,
bleibt fruchtlos alles Planen.
Die Liebe - hört sie niemals auf?
Kann Mensch das ernsthaft hoffen?
In jedem kleinen Lebenslauf
bleibt doch das Ende offen.
Moralische Erziehung
Als er grad achtzehn Jahre war,
da sprach sein Vater: „Lieber Sohn,
ins Rotlichtviertel oder gar
dortselbst in die Ramona-Bar
gehst du mir nicht, ist dir das klar!
Warum nicht, weißt du schon!“
Sein Interesse war erwacht.
„Warum denn nicht?“, so fragt er ihn,
weil ihm das doch sehr seltsam schien.
„Du bist noch viel zu jugendlich.
Was dort geschieht, gehört sich nicht,
versaut, verdirbt, beeinflusst dich,
weil es dich unmoralisch macht.“
Da riss ihn seine Neugier fort.
Er ging dort hin, und zwar allein
und hörte dann die Freunde schrei’n:
„Bist du für so was nicht zu klein?“ –
„Warst Du den Damen nicht zu fein?“ –
„Was sahst du dort, was mag das sein?“
„Ich sah, was ich nicht sehen sollte,
und was ich auch nicht sehen wollte:
sah meinen Alten dort.“
Starke Frau
Ja, ich lebe jetzt allein!
Ja, ich habe mich getrennt!
Lasse alles einfach sein,
was man Ehe-Alltag nennt.
Stelle nicht mehr jeden Tag
pünktlich so um zwölf Uhr dreißig
auf den Tisch, was Papa mag,
sag´ nicht mehr: „Na, warst Du fleißig?“
Schieb´ ihm nicht die Zeitung zu,
hinter der er sich verschanzt,
les´ zuerst sie und in Ruh,
knitterfrei, nicht ausgefranst.
Jeden Morgen sein Geschimpfe
brauche ich nicht mehr zu hören,
nur weil meine Nylonstrümpfe
ihn beim Nassrasieren stören.
Und mich drüber ärgern müssen,
was er macht
und zwar vorsätzlich
mit den Tuben-Drehverschlüssen,
finde ich total entsetzlich.
Seine Feste mitzufeiern,
seine Leiden mitzuleiden,
seine Schwächen zu verschleiern
und zu teilen seine Freuden,
hab´ ich satt bis zu den Ohren!
Seine schweißgetränkten Socken,
die er irgendwo verloren,
müssen mich nicht länger schocken.
Mag kein Bier in Männer-Küssen,
nicht die Sofa-Übernachtung,
nicht das Alles-Besser-Wissen,,
nicht die tägliche Missachtung.
Komm´ alleine besser klar,
auch mit handwerklichen Sachen,
denn man braucht nicht, ist doch wahr,
soviel Lärm und Dreck zu machen.
Tageweise mitgezählt,
wie viel Wörter er so spricht,
wenn er sich so richtig quält:
mehr als zwanzig war´n es nicht.
Ja, da schalte ich doch lieber
meinen Lieblingssender ein,
denn dort hör´ ich Liebeslieder –
auch das Lieben ließ er sein.
Nein, ich habe mich entschieden,
nicht mehr an dem Mann zu kleben.
Mann und Frau sind zu verschieden –
statt zufrieden
ihm zu dienen,
will ich leben.
Leben wie ich will
Der reiche Opa war gestorben,
und Oma lud ins Gasthaus ein.
Der Freundeskreis war eng geworden:
Nur Söhne, Töchter, Enkel klein.
Fast war der Leichenschmaus vorüber,
er nahm den üblichen Verlauf,
doch setzte man sich wieder nieder
denn sie, die Witwe, stand nun auf.
Sie klopfte an ihr Rotweinglas,
und alle wandten sich ihr zu,
was sie in ihren Augen las,
die Trauer, sie erstarb im Nu.
„Ich schenke Euch mein Mobiliar,
die Möbel machen toll was her,
hab‘ sie gehabt so manches Jahr,
nehmt alles hin, will sie nicht mehr.
Und auch die Töpfe und die Tiegel,
und auch Bestecke und Geschirr,
die Bilder, Vasen und der Flügel,
gehör‘n nun euch und nicht mehr mir.
Ich kaufe ein paar neue Sachen,
das Nötigste, was man so braucht.
Das wird mir große Freude machen.
Ich schau‘ auch weg, wenn ihr euch rauft.
Ihr habt nun eine Woche Zeit
die Wohnung auszuräumen,
Entrümplungsdienste steh‘n bereit,
ihr solltet nichts versäumen.
Ich habe Handwerker bestellt,
die machen alles nagelneu,
genauso, wie es mir gefällt.
Wie ich mich darauf freu‘!
Und sei es nur für die paar Tage,
die ich noch hab‘, und schweigt jetzt still
und stellt mir bitte keine Frage.
Will endlich leben, wie ich will
und nicht im Wohlstandsmüll ersticken.
Bin lieber arm aus freien Stücken.
Familienglück
Am ersten Advent, bei Nüssen und Wein,
da meinten sie beide noch, glücklich zu sein.
Sie schaute mit glänzenden Augen ihn an,
als sie mit ihm leise zu reden begann:
„Nun hör mal mein Schatz, dass ich es erwähne,
zum Heiligen Abend, da hab´ ich schon Pläne.
Es wird dich sehr freu'n und kann auch nicht schaden.
Ich hab meine ganze Familie geladen.
Die Mama, den Papa, und viele Verwandte,
die Schwäger und Neffen, die Nichten und Tanten,
den Opa, die Oma und auch meine Schwester,
sie bleiben, so hoffe ich, bis zu Silvester.
Und Deine Familie, das hab‘ ich geklärt,
die freuen sich sehr und fühl’n sich geehrt.
Bis dahin wird Dieter und Jutta ein Paar sei,
und ich lad sie danach gleich zu Neujahr ein.
Sie endlich mal alle hier wiederzuseh‘n,
zu Weihnachten, Liebster, ach wird das schön.
Verstehst du jetzt, dass ich so glücklich bin?
Ich freue mich so, bin weg und bin hin.
Mein lieber Schatz, gefällt dir das nicht?
Du machst ein so unerfreutes Gesicht.
Warum stehst Du auf? Und gehst zu der Tür?
Was soll das mein Lieber? Bleibe doch hier.
Junges Glück
Wir treffen sie vor ihrem Haus
im Neubau-Wohngebiet.
Er räumt grad die Garage aus,
sie tritt mit Kind im Arm heraus,
als sie uns kommen sieht.
Sie wohnen hier nun schon ein Jahr.
Der Garten ist bestellt.
Nicht alles ist hier wunderbar,
doch größer als es vorher war.
„Klar, dass es uns gefällt!“
Er hat rund um die Uhr zu tun,
zu Haus und im Betrieb.
Sie pflegt und putzt ihr Eigentum
und mag nun keine Stunde ruh´n ,
wär´ es ihr noch so lieb.
Die Schulden – „Ach, das schaffen wir!
Er macht halt Überstunden.
Die Nachbarn – ja sie gaffen hier,
und Freundschaft grillen wir mit Bier.
Der Sohn hat Freunde schon gefunden.“
Das Haus – hat er es ihr geschenkt?
Sie ihm dafür die Kinder?
Wenn man so „lebenspraktisch“ denkt,
merkt man, dass man sich selber kränkt.
Und wie lebt man gesünder?
Denn beide tun nach dem Gefühl
aus reiner Selbstverleugnung,
was eigentlich der andre will.
Und es gewinnt nicht dieses Spiel
die tiefere Verbeugung
vor Lebenspartners Lebensziel.
Wie finden Zwei das wirklich Eine?
Wie prüft ein jeder sein Gefühl,
macht nicht des Fremden viel zu viel
statt selbstbewusst das Seine?
Zum Schluss steht als Verlierer da
das junge Glück.
Wer in dem Spiel der Führer war
bei jenem glücklich liebend Paar?
Schickt einen langen Blick zurück!
Wachsen lassen
Glatt und grade soll der Baum sein,
rage in den Himmel rein
und sei stark und fest verwurzelt,
dass er niemals jemals purzelt.
Sein Gesamtbild sei symmetrisch,
Umfall'n völlig hypothetisch.
Er sein sturmfest, schön und mächtig
und im Herbst besonders prächtig.
Ist das Bäumchen glatt und grade,
ist das auch ein bisschen fade,
ist es linkswinklig und krumm,
ist es ganz bestimmt nicht dumm.
Dreh'n nach rechts und das forever
ist doch überhaupt nicht clever
für den, der mit keckem Mut
sich nach links sehnt und es tut.
Ist das Bäumchen glatt und grade,
ist das auch ein bisschen schade.
Ist es links und stark und krumm,
bringt es keiner so schnell um.
Und die vielen Selbstgerechten,
die nach rechts es drehen möchten,
geben mit geheimer Wut
schließlich auf und dir geht's gut..
Die liebe Familie
„Liebe Familie!“, so begann
am Mittagstisch ein junger Mann,
ich habe mich dafür entschieden,
ich will nur noch die Eine lieben,
das Waisenkind von gegenüber,
die Ruth, denn niemand ist mir lieber.“
Dem Vater scheint das nicht zu passen:
„Ihr wurde gar nichts hinterlassen!“
Und Mutter sagt ganz kühl und hart:
„Sie hat rein gar nichts angespart.“
Der kleine Bruder ist empört:
„Von Fußball hat sie nichts gehört!“
Und seine Schwester äußert nur:
„Sie hat ‘ne komische Frisur.“
„Sie sollte sich von Grund auf schämen!“,
so lässt der Onkel sich vernehmen,
„Romane lesen, ja das kann sie,
bei Hausarbeit rührt keine Hand sie!“
Die Tante hängt sich gerne dran:
„Sie zieht sich sehr geschmacklos an.“
Großmutter höhnt und winkt dann ab:
„Doch Schminke trägt sie, nicht zu knapp.“
Der junge Mann sagt: „Alles richtig.
Wenn man sie doch mit uns vergleicht,
ist da ein Vorteil, der scheint wichtig.“
„Ach, nennst du uns den jetzt vielleicht?“
Der Sohn streicht sich die Haare glatt.
Er ist von all dem rund und satt.
„Wie gut“, sagt er, und das klingt matt,
„dass sie keine Familie hat.“
Zwei Hände
Der Himmel blau, die Luft so lau,
ein Café-Garten auf dem Land,
ein alter Mann mit alter Frau,
die Rücken krumm, Gesichter grau,
der Sonne zugewandt.
„Ein Kännchen Kaffee, ein Stück Torte“,
sie sprechen leise, kaum zu hören,
die Café-Garten-Sonntags-Worte,
man flüstert sie an diesem Orte,
als wollte man nicht stören.
Die Frau lässt ihre Blicke schweifen,
das frische Grün, das Blüten-Glück.
Ich seh den Mann mit seinen steifen
Fingern nach der Tasse greifen,
dann zieht er sie zurück.
Die Hand bleibt auf dem Tische liegen,
die Frau legt ihre Hand darauf.
Zwei Hände, die sich kaum noch biegen,
doch leise streichelnd sich berühren,
als würden sie nur dazu dienen,
des And‘ren Schmerzen mitzufühlen –
die Hand nimmt das in Kauf.
Im Strom
Dein Leben ist ein breiter Strom,
du holst die Segel ein und treibst dahin.
Die Klippen hast du überwunden schon.
Und Rudern macht nicht länger Sinn.
Der Fluß ist tief, die Strömung stetig,
die Ufer rücken immer weiter.
Das Wasser fließt, und dein Boot trägt dich.
Sei du sein sanfter Reiter.
Um was bringt Rudern dich noch weiter?
und nützt dir nun noch viel?
Schau in die Ferne, bleibe heiter,
im Irgendwo liegt nun dein Ziel.
Nun, liebe Freunde, gute Fahrt
zum Meere hin, wo alles mündet,
Der Grund, der sich dir offenbart,
ist tief in dir gegründet.
Du hast so viele Häfen angelaufen
und Fracht geladen und sie abgesetzt.
Für deinen Lohn kannst du dir nichts mehr kaufen.
Dich trägt der Strom – zu guter Letzt.
Die Hand
Im „Localino“ kann man speisen,
ein Eis verschlecken, Kaffee trinken
und über Freunde, Leute, Reisen
tief ins Gespräch versinken.
Den Eingang sichert rechts ein Ständer,
die breite Stufe führt zur Tür,
doch linker Hand ist kein Geländer.
Ich brauche meinen Stock dafür.
Denn will ich das Lokal verlassen,
ein andrer Mann will dort hinein.
Kann weder rechts noch links was fassen,
steh‘ auf der Stufe und allein.
Das sieht der schon erwähnte Mann
und spürt, dass ich mich jetzt nicht traue,
weil so ein Gehstock rutschen kann,
auf dessen Hilfe ich sonst baue.
Er streckt mir seine Hand entgegen,
die ich ergreife voll Vertraun.
Sie ist so kraftvoll und voll Segen …
will mehr in meine Worte legen.
Nur „Danke!“ sagen trifft es kaum.
Er sah, was ich zu oft versäumte
und tat, was ich zu tun nur träumte.
Mann muss nicht, unbesiegbar sein,
ist manchmal schwach, bedürftig, klein,
nicht lebenslang ein Sieger.
Einmal, zum Schutz, ein Engel sein,
das wär‘ mir lieber.