Das siebte Mal
Der ICE fliegt pfeilgeschwind.
Ich schau nach links, und dort ist Landschaft.
Rechts spielt die Frau mit ihrem Kind -
ich hätt´ gern andere Bekanntschaft.
Mir gegenüber seh´ ich sitzen,
im besten Alter, früh ergraut,
den stillen Mann. Von meinen Witzen
ist er nicht sonderlich erbaut.
Und draußen schwebt ein Tal vorbei,
der Fluß, die Au, der Buchenwald,
so lieblich, sanft und sorgenfrei,
lässt keines Menschen Seele kalt.
Er drückt sich tiefer in die Ecke,
als wolle er davon nichts seh´n,
und zittert leicht in dem Verstecke,
als würde es ihm schlecht ergeh´n.
Ich blick´ ihn an. Er schließt die Augen,
als ob er in Gedanken sei,
und gar nichts könne dabei taugen,
schon gar nicht meine Rederei.
Nun schaut er auf, blickt auf das Kind,
sieht meiner Frage ins Gesicht.
Und als zu reden er beginnt,
da unterbreche ich ihn nicht.
„Dies ist die Stelle, gerade hier.
Auf dieser Brücke ist´s gescheh´n.
Das siebte Mal, und wieder mir.
Ich habe jeden noch geseh´n.
Doch dieser letzte schaut mich an,
steht, Arme breit, auf den Geleisen
und will, wie unter einem Bann,
den Tod empfangen und ihn preisen.
Ich hab gebremst und gab das Zeichen.
Zu spät natürlich. Keine Chance.
Sie woll´n es so und nicht mehr weichen.
Und ich? Mich warf´s aus der Balance.
Mein ICE-Lokführerhaus
hab ich seitdem nicht mehr bestiegen.
Ich halte es ja kaum noch aus,
hier so wie heut’ vorbeizufliegen.
Und weiß nicht, wie´s mir möglich war,
den Schock sechs Male zu verschieben.
Mein Herz wär´ tot, ganz offenbar,
wenn keine Spuren blieben.“
Ich habe ins Abteil geschielt
Die Mutter sah ich lesen.
Ihr Kind hat stillvergnügt gespielt,
als wäre nichts gewesen.
Seesterne
Ein Sturm kam auf mit hohen Wellen,
Seesterne warfen sie aufs Land,
an Felsen würden sie zerschellen,
doch lagen sie an manchen Stellen
zu tausenden im weichen Sand.
Der Sturm vorbei, die Sterne lagen
am Strand. Ein Mädchen hob sie auf,
um sie zum Meer zurück zu tragen.
„Das nützt doch nichts, lass dir das sagen.
Lass der Natur doch ihren Lauf!“
„Es nützt was. Ich hab‘ keine Wahl.
Ich kann mit meinen beiden Händen
vorm Sterben unter großer Qual
sie retten. Zwei bei jedem Mal.
Die werden nicht im Sand verenden.“
Abreise
Am Bahnsteig sechs, der Zug fährt ein,
schaut sie an ihm vorbei
und seufzt ganz leis: „Es muss so sein.“
Er schweigt, als wär’s ihm einerlei.
Er greift nach ihrer Reisetasche,
sie nimmt sie ihm gleich aus der Hand,
zerrt noch ein wenig an der Lasche,
der Kopf ist abgewandt.
Doch dann ein Ruck. Sie wendet sich
ihm zu mit vollem Blick.
„Leb´ wohl!“, sagt sie, „denk´ nicht an mich.
Vor allem nicht zurück.“
Leben im Vorübergeh´n
Leben will ich, Leben sehn,
nehmen, geben und verstehn,
und an nichts vorüber gehn:
Nicht an Blümchen oder Tierchen,
nicht an Bierchen und Pläsierchen,
Kaffee, Kunst und rotem Wein,
Strand, Musik und Sonnenschein,
seelenrührenden Geschichten,
Prosa, Lyrik und Gedichten –
Und das Leid der ganzen Welt
ist schon vor mich hingestellt.
Ob ich mich nach Leben sehne,
Leben pflege, mir verschöne,
oder über Leben stöhne,
es verhöhne
oder mich mit ihm versöhne,
und mich schließlich dran gewöhne,
niemals bleibt ein Dichter stumm,
sitzt da Publikum herum,
hoffen doch wir Schreiberlinge,
dass der Abend uns gelinge.
Nicht zum Schreiben, das sei klar,
Leben ist zum Leben da!
Denn auf Schritt und Tritt, da seh ich´s,
selten oder nie versteh´ ich´s,
ahne: „Niemals überleb´ ich´s!“
Leben, dass du übersiehst,
oder vor dem du entfliehst,
kann so bitterschnell vergeh´n –
und wie im Vorübergehn
wird es dann vorüber geh´n.
Im Pflegeheim
Die alte Frau im Gitterbett –
Niemand hat jemals sie gefragt,
wie sie denn gern ihr Sterben hätt´,
und wenn, dann hätte sie gesagt:
Lasst mich in Ruhe sterben!
Bekannte hat sie keine mehr,
die sind schon längst verstorben.
Verwandte kommen sonntags her,
der Tag ist dann verdorben:
Wann wird sie endlich sterben?!
Ein dünner Schlauch in ihrem Mund
- man müsste sie sonst überreden -
führt bis zum Magen durch den Schlund,
bewahrt sie vor den Mangelschäden.
Doch sie will lieber sterben!
Ihr Blick geht an die Decke bloß,
nur selten flackert noch Erkennen,
die Hände greifen, lassen los,
als wollten sie sich trennen;
denn sie will endlich sterben.
Man sorgt für sie sehr effizient
- sie wird gewindelt und gewaschen -,
tut alles, was man „Pflege“ nennt,
lässt sich vom Tod kaum überraschen.
Doch ist das noch ihr Sterben?
Die große Flut
Hab´ einer Mücke zugeseh´n,
wie sie mich stach.
Absichtlich ließ ich es gescheh´n,
es sollte mir nicht schlecht ergeh´n,
nur etwas Ungemach.
Es war ja nur ein Mückenstich,
der mich ereilte.
Das große Unglück traf nicht mich,
es traf die andern willkürlich,
wie es sich grad verteilte.
Das war die Flut zweitausendzwei.
Noch heute kann ich hören
den ohnmächtigen Hilfeschrei:
das Wasser steigt, der Fluss wird frei,
wird unser Haus zerstören.
Bin wieder mal verschont geblieben
vom großen Schlage.
Ich weiß nicht, wie die Götter sieben,
wen sie bestrafen, wen sie lieben,
so taub für jede Klage.
Treffpunkt
„Es tut mir Leid, Chef, ich muss geh‘n,
weit weg, vielleicht bis Amsterdam.
Hab‘ auf dem Markt den Tod geseh’n.
Und deshalb, Chef muss ich wohl geh’n –
Er schaute mich so drohend an.“
„Nanu, hab‘ heut mit ihm gesprochen,
dem Tod. Er war nur sehr erstaunt,
Er denkt, du hättest ihn gerochen,
und wärst schon lange aufgebrochen –
Er schien mir doch recht gut gelaunt.
Er sagt, er trifft dich ganz bestimmt,
und das vertraute er mir an,
der Ort, die Zeit und wie man’s nimmt,
das alles sei doch vorbestimmt –
am Hauptbahnhof von Amsterdam.“
Ankunft
Sie steht am Bahngleis, seit Minuten,
geht auf und ab, trägt kein Gepäck.
Es liegt sehr nahe zu vermuten:
Sie fährt bestimmt nicht weg.
Wie hoffnungsvoll es eben klang:
„Der Zug aus Köln fährt endlich ein!“
Sie winkt und läuft am Zug entlang:
Er müsste angekommen sein!
Mehr Menschen steigen ein statt aus.
Von ihm ist wieder nichts zu seh´n.
Sie geht dann schließlich still nach Haus,
als wäre nichts gescheh´n.
Der Kuckuck
Ich höre gern der Lerche zu,
wenn überm Felde ohne Ruh‘
sie jubelt aus der Vogelbrust
die Lebenslust.
Ich lausche gern dem Drosselmann,
den man vom frühen Morgen an
so herzbetörend flöten sieht,
sein Liebeslied.
Und auch das Lied der Nachtigall
weckt meiner Seele Widerhall.
Ich fühl‘ zur späten Abendzeit
die Traurigkeit.
Doch wenn im Mai der Kuckuck schreit,
weiß ich nicht recht, ob mich das freut,
zähl meine Jahre nach und bleibe
und hör ihm zu aus Langeweile.
„Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch,
wie viel Jahre leb ich noch?“
Wer kennt ihn nicht den Kinderreim!
Ich lass‘ mich manchmal darauf ein.
Ich zählte neulich nur bis neun
und war zu Tod erschrocken.
Doch dann begann ich, mich zu freuen:
Noch so viel Zeit! Ließmich von neuem
ins bunte Leben locken.
Und hätt‘ er nur zweimal geschrien?
Wie hätt‘ mich das getroffen?
Ich lass die dunklen Wolken ziehn.
Dem Schicksal kann ich nicht entfliehn,
nur glauben, lieben, hoffen.
Mein Teil
Das Stückchen Land, das ich besitze,
ich hab’s erworben für mein Geld.
Wenn ich‘s bebaue und beschwitze,
wird‘s dann mein Teil von dieser Welt?
Ich kann’s verkaufen, kann’s vererben,
dann bindet‘s mich nicht an mein Sein.
denn eines Tages werd‘ ich sterben.
Will ich mich vor dem Tod befrei'n?
Die Asche, die mein Leib gewesen,
sie düngt hinfort den Friedwald Baum,
Du kannst noch meinen Namen lesen,
in Stahl gestanzt. Du siehst ihn kaum.
Die Bäume über mir, sie rauschen,
die Blätter werden bunt und fahl,
und fallen und die Toten lauschen,
als hätten sie noch diese Wahl.
Moonshadow,
Ich sehe unserm Schatten zu,
mal rechts, mal links, mal vorn, mal hinten,
mal bin es ich, mal bist es du,
er folgt uns, lässt uns keine Ruh,
als wollte er uns zwei verbinden.
Seh‘ meinen Schatten ohne Glieder,
und denke dann, wie wird das sein,
und hab‘ ich Arme, Beine wieder,
im Vollbesitze meiner Glieder,
dann fall’n mir andere Verluste ein:
Ich könnte blind sein, taub und stumm,
und meine Haut nicht spüren,
man hielte mich vielleicht für dumm,
dementes Individuum –
Was würde mich berühren?
Dass ich das Elend nicht mehr sehe,
die Menschen und das Weltgeschehen
ganz und gar nicht mehr verstehe?
Dass ich nun Kränkung nicht mehr höre,
nur lautlos meine Lieder singe,
und dennoch eure Ruhe störe?
Dass keine Kämpfe ich gewinne,
und keine Tat mich mehr befreit,
und dass ich mich nicht klug besinne,
bevor es aus mir “Hilfe“ schreit?
Dass ich mir nicht mein Mahl bereite,
gar keinen Weg allein beschreite
und Rosendüfte nicht mehr rieche
und jetzt vor jeder Drohung krieche,
obwohl ich gerne Flüche riefe?
Dass keine Rede mir mehr schmeichelt,
und Liebe mich nicht mehr erreicht,
obwohl mich ihre Hand noch streichelt?
Dass Schmerz nun nicht mehr von mir weicht?
Es bleibt nicht viel, was mich erfreut
bei dem erzwungenen Verzichten,
und doch hab‘ ich mich nicht gescheut,
es zu verdichten.
Heilung
Verzeih mir, dass ich es erwähne:
„Heilung“ , wie ich sie ersehne,
ist nicht husten- schnupfenfrei sein,
und auch nicht „noch mal dabei sein“.
Heilung wär‘, nicht so zu tuen
so als würd‘ ich in mir ruhen,
und als wär’n die äuß‘ren Dinge,
nebensächlich und geringe.
Heilung, ja, braucht ihre Zeit,
macht mich, vielleicht unerfreut,
dennoch außen, innen wie befreit
für den Abgang jederzeit
bereit.
Dem Tod begegnen
Frei nach DeMello
Ein Mönch, der schon im Sterben lag,
dem kam ein Wunsch in seinen Sinn:
„Wo sind die Schuhe, die ich trag,
holt sie mir doch und stellt sie hin.“
Die Brüder wussten nicht so recht.
„Du stirbst, mein Freund, du kannst nicht geh’n.“
Der Sterbende wies sie zurecht:
„Was ich kann, werdet ihr dann seh’n.
Zwar will ich warten auf den Tod,
doch mich zu ihm nicht schleppen lassen.
Das ist es, was mir durch euch droht.
Und das wird niemals zu mir passen.“
Dann steht er auf, zieht Schuhe an
und schlägt den Weg zum Friedhof ein.
Dort schaufelt er sein Grab sodann
und legt, im Frieden, sich hinein.
Mondsichel
Ich habe gestern in der Nacht
ein schmales Stück vom Mond geseh’n.
Das hat die Botschaft überbracht:
Mein Lebensrest! Und im Vergeh’n.
Ein schmaler Rest, so schien es mir,
und mich erfasste jäh Entsetzen.
Ich hörte deutlich jetzt und hier
den Sensenmann die Sense wetzen.
Sie, die an meiner Seite saß,
verstand, das Sichelbild zu deuten:
„Der Mond nimmt zu“, war, wie sie’s las.
Die Glocke hörte auf zu läuten.
„Der Rand kann Rest und Anfang sein,
von deinem Leben,
Bedeutung - groß und / oder klein,
darfst du ihm selber geben!“